Du Märtyrer, dachte ich zwischen Bewunderung und Grauen. Aber wenn mir auch bei seinen Worten ein Kartenhaus zusammenbrach, wie hätte ich ihm dafür gram sein können! Was wäre das für eine armselige Freundschaft, die täglich wie ein Kaufmann ihr Soll und Haben buchen wollte! Ja, und auch so wären wir noch immer als die Gewinnenden erfunden worden. Von ihm ging ja aller Reichtum aus, womit wir anderen unser Schatzkästlein füllten.
Ich bin kein Freund von großen Worten, sagte ich, aber ich glaube an Sie, wenn ich auch noch keine Zeile von Ihnen gelesen habe: ich bin gewiss, wenn ein Geist, wie der Ihre, der Welt etwas geben will , so kann es nur das Außerordentliche sein.
Wir saßen in Gustavs Zimmer auf dem durchgedrückten Kanapee, das schon dem irren Dichter zur Benützung gedient hatte, und es ergriff mich mit einem Schauer, dass in diesem Raum ein Großer in die Nacht hinabgestiegen war und vielleicht jetzt eben ein anderer Großer hier seinen einsamen Gang zur Höhe antreten sollte. Ob nicht an den Wänden oder an der rauchgeschwärzten Decke vielleicht noch etwas Geistiges haftete, das nach einem neuen Sinneswerkzeug verlangte, um zu den Menschen zu reden?
Ich selber habe schon mitunter Ähnliches gedacht, besonders zur Nachtzeit, wenn es mir plötzlich wie verwehte Rhythmen in die Ohren tönt, entgegnete der Freund auf meine Bemerkung hin. Am tiefsten empfand es Olaf, als er zum ersten Mal hier eintrat: Hier also wohnte der Eine, der mit nichts Irdischem verwandt war; und er wohnt noch immer hier! sagte er mit einer Miene und einem Ton, die ich nie vergesse. Und hernach konnte er kein weiteres Wort mehr in dem Raume sprechen.
Warum sind Sie so unmitteilsam, fragte ich nach einer längeren Stille.
Ach, lieber Harry, sagte er, bei der Erziehung büßen wir alle ein Stück unseres natürlichen Wesens ein. In meinem Elternhause musste ich mein Talent wie einen Aussatz verheimlichen. Das hat mich in mich selbst zurückgeschreckt, dass ich jetzt wie hinter einer Mauer lebe. Aber haben Sie Geduld, Sie werden vielleicht noch mehr von meinen Arbeiten hören müssen, als Ihnen lieb ist. Mit meinen Gedichten werde ich niemand mehr behelligen. Seit ich Olaf Hansen kenne, weiß ich erst, woran es mir fehlt. Dagegen habe ich jetzt ein fertiges Lustspiel druckreif im Pult, um das ich mit einer Bühne in Verhandlung stehe.
Der Ton, womit er dies sagte, klang aber so obenhin, fast geringschätzig, dass ich gleich fühlte, mit dem Besten hielt er noch zurück; sein Ziel, das er mir aus der Ferne andeutete, musste ein viel höheres, musste die Tragödie großen Stiles sein.
Er gab zu, dass ein gewaltiger vaterländischer Stoff ihn ganz ausfülle.
Was für ein Stoff? wagte ich zu fragen.
Er nahm einen schweren Gegenstand, der einen Stoß beschriebener Blätter zusammenhielt, vom Tisch und reichte ihn mir:
Wofür halten Sie dieses Ding?
Es war ein gebogenes, abgebrochenes Stück Eisen von rauer Oberfläche, stark verwittert.
Für ein Hufeisen des Pegasus, antwortete ich scherzend, das seinem Finder Glück bringen möge, wie sich’s für ein Hufeisen gehört.
Er nahm es mir gleich wieder ab und wog es mit einem Ausdruck von Ehrfurcht in der Hand.
Wohl ist es ein Hufeisen, und zwei Menschenschicksale sind damit verknüpft. Das eine ist an dem Fund zugrunde gegangen. Welches Glück es dem andern bringen wird, muss die Zukunft zeigen. Ich war als grüner Junge mit dabei, wie man dieses Eisen mit vielen andern aus der Erde grub. Das geschah beim Bau einer Wasserleitung im Detmoldischen, als ich eben bei mütterlichen Verwandten dort zu Gaste war. Man fand ihrer so viele, dass sie in ganzen Karrenladungen beiseitegeschafft und als altes Eisen nach auswärts verkauft wurden. Von meinem Onkel Paul habe ich Ihnen schon erzählt, der ein feuriger Altertumsforscher war. Ich benachrichtigte ihn von dem Fund, und er kam zwei Tage später aus Paderborn herüber, um die Hufeisen zu sehen. Er war sehr erregt, denn er hatte schon vor Jahren einen ähnlichen Fund in dieser Gegend vorausgesagt. Es waren nur noch wenige im Ort zu finden, und ich musste ihm alle von mir gesammelten überlassen, bis auf dieses hier. Er sprach die Hufeisen für römische an und die Auffindungsstelle für den Ort, wo die Reiterei des Varus unter Vala Numonius vernichtet wurde; auch deutete er auf andere Punkte in der Umgebung hin, wo noch weitere Ausbeute in der Erde harrte, die einige Jahre später auch wirklich zutage trat. Ich durfte ihn auf langen Gängen begleiten und begeisterte mich wie er für den Gedanken, dass die Gegend, in der wir uns befanden, der vielumstrittene Schauplatz der Varusschlacht sei. Mein Onkel Paul war ein Mann von hinreißender Überzeugungskraft, der erst in vorgerückten Jahren durch Eigenstudium zu germanischer Altertumskunde gekommen war und schon deshalb die Mehrzahl der Fachleute gegen sich hatte. Welche Genugtuung, als nach jahrelangen Zurücksetzungen der stumme Erdboden selber sich auftat, um für ihn zu zeugen! Der Erfolg verzehnfachte seine Willenskraft, er ging wie mit einer unsichtbaren Wünschelrute umher und zog die verborgensten Dinge aus der Tiefe. Aus alten Urkunden brachte er vergessene Orts- und Flurnamen zutage, in denen die Spuren eines furchtbaren Völkergerichts fortlebten. Da gab es im westfälischen Platt einen »Knochenbach«, einen »Leichenhügel«, einen »Todesgarten«, nach seiner Ansicht lauter Erinnerungen an die Teutoburger Schlacht. Die beiden Lagerplätze des Varus, wie sie sich sechs Jahre nach der Schlacht den Legionären des Germanikus darstellten, die bleichenden Gebeine der Erschlagenen, die noch lagen, wie sie gefallen waren, die Altäre, an denen man die römischen Legaten geschlachtet hatte, die Anhöhe, von der herab der Sohn des Segimer seinen schrecklichen Gerichtstag hielt, – alles rief seine lebendige Einbildungskraft aus den friedlichen Wiesen und Moorgründen hervor. Ich will nicht behaupten, dass er in allem und jedem recht hatte, mein Onkel war eine Poetennatur, die sich von der Fantasie fortreißen ließ, aber dass man ihn seiner allzu raschen Schlüsse wegen als Narren und Nichtswisser behandelte, hat er nicht verdient.
Seine Untersuchungen über die Örtlichkeit der Varusschlacht entfesselten nämlich unter den Forschern einen heißen Streit, der mit vergifteten Waffen geführt wurde. Ihm sind seine Forschungen zum Unheil geworden, in mir aber weckten sie den schlummernden Funken. Damals trat mir der Cheruskerheld, dessen Gestalt mir vorher so dämmerhaft wie etwa Dietrich von Bern gewesen war, leibhaft aus dem Dunkel. Ich lernte ihn persönlich kennen, er ließ mich einen Blick in seine tief verschlossene Seele tun. Und seitdem ist er mir näher, als es jemals ein lebender Mensch sein wird. Ich gelobte ihm meine ganze Kraft, wenn ich einmal reif sein würde. Ich wartete und schulte mich und nährte ihn still mit meinem Blut, und wenn ich mich da und dort künstlerisch versuchte, so war’s nur, was ein Manöver ist gegen einen Schlachttag. Jetzt ist die Zeit gereift, für die mein ganzes bisheriges Leben nur die Vorbereitung war. Während meine Eltern mich tief ins Corpus juris versenkt glauben, schlage ich die Varusschlacht. Das gilt einen Sturm, der heißer ist als der auf die Düppler Schanzen. Ich denke, sogar mein Vater, so wenig er auf die Dichtkunst hält, wird aufhören müssen, mich als einen verlorenen Sohn zu betrachten, wenn einmal auf der ganzen Linie Sieg geblasen wird.
Читать дальше