Ist das Genie oder Wahnsinn oder beides? dachte ich, und um nur wieder den Boden unter den Füßen zu fühlen, fragte ich schnell:
Was ist aus Ihrem Blutsfreund geworden?
Der Unglückliche hatte sich mit seinen Untersuchungen über die Örtlichkeit der Varusschlacht auf ein Gebiet gewagt, wo er nicht von Hause aus zuständig war, und das verzeiht die schulmäßige Wissenschaft schwer. Da er gegen die Meinungen namhafter Gelehrter anstieß, wurden die seinigen geringschätzig abgetan und die Fachzeitschriften verschlossen seinen Entgegnungen die Spalten. Aber er war nicht der Mann, sich unterkriegen zu lassen, er verfasste eine Reihe von Streitschriften, die er unentgeltlich versandte, und um sich ganz dem zu widmen, was er für seine Lebensaufgabe hielt, legte er sogar sein Amt nieder. Er ließ auf eigene Kosten Grabungen ausführen und nahm selbst den Spaten in die Hand. Dabei kam eine Münze aus der Zeit Augusts und ein längliches, stark zerfressenes Eisenstück zutage, das er sofort für ein Römerschwert erklärte, das aber freilich alles andere ebenso gut sein konnte. Diese Funde bestärkten ihn in einer ganz vermessenen Hoffnung: er hatte sich nichts Geringeres vorgesetzt als jenen römischen Adler auszugraben, den an dem Schreckenstag der Adlerträger von der Stange brach, um sich mit ihm in den blutgetränkten Sumpf zu stürzen. Wehe dem, der ihm entgegenhalten wollte, dass nach einem späteren Bericht der Adler wieder aufgefischt und nach Rom zurückgeschickt worden sei. Lug und Trug ist alles, rief er mit rollenden Augen; ein freches Gaukelspiel des Germanikus, der den römischen Hochmut kitzeln wollte. Und er konnte gegen den Germanikus toben, als ob er sein Zeitgenosse wäre. Ohne den Spott der Einwohnerschaft und der Presse zu beachten, ließ er Sümpfe und Moorgründe des Teutoburger Walds durchwühlen und arbeitete trotz seiner Jahre immer selber mit. Den Adler fand er nicht, dagegen holte er sich den Keim eines schweren Typhus, der den alten Mann dem Tode nahe brachte. Zwar riss er sich durch, aber nicht zu seinem Heil: von der Krankheit blieb ihm eine Reizbarkeit und fantastische Sprunghaftigkeit, die ihm vorher ganz fremd gewesen war. Jeder Widerspruch brachte ihn außer sich, er konnte sich kaum noch mit den Nächsten vertragen und verbiss sich in längst widerlegte Irrtümer, die auch den wertvollen Teil seiner Forschungen in schiefes Licht setzten. Ich war der einzige Mensch, der ihn noch zu behandeln verstand, wenn ich auf Urlaub nach Paderborn herüberkam, und er hielt auch treu zu mir. Er verschaffte mir noch die nötigen Geldmittel, die ich sonst nirgends auftreiben konnte, als ich meine Absicht wahr machte und den Soldatenrock auszog. Damals hat mich niemand verstanden als er, es waren die letzten schönen Tage, die wir zusammen verlebten. Wir durchwanderten noch einmal gemeinsam sein Arbeitsfeld, besuchten die alten, unbegreiflichen Externsteine, in die er die ganze germanische Götterwelt hineinrätselte, und er war so froh und hochgestimmt wie im Besitze eines glückbringenden Geheimnisses. Da konnte er im Wandern plötzlich stehenbleiben und in dunkel raunendem Ton die Eddaworte sprechen: Wohl ist den Wahlgöttern, wisst ihr, was das bedeutet? – Wenn ich aber fragte: Was bedeutet es, Onkel Paul? so legte er lächelnd den Finger auf den Mund. Später erfuhr ich, was mit ihm umging. Er hatte sich auf das Studium des Isländischen geworfen, um die Edda im Urtext zu lesen, und war zu einer ganz anderen Auslegung der dunklen Stellen gekommen als die Übersetzer. Er glaubte entdeckt zu haben, dass viele Lieder der Edda geheime Anspielungen auf den Untergang des Varus enthielten, und dass die Gestalt des Siegfried nur eine mythische Spiegelung des geschichtlichen Arminius sei, wie Dietrich von Bern die des großen Gotenkönigs. Siegfrieds Kampf mit dem Drachen auf der Gnitahaide war ihm die symbolische Umdeutung der Varusschlacht, und die Gnitahaide glaubte er, auf eine alte isländische Reisebeschreibung gestützt, in die Nähe von Paderborn verlegen zu dürfen, ebendahin, wo er sich von je das Schlachtfeld des Varus gedacht hatte. So suchte er eine gewagte Hypothese durch eine noch gewagtere zu stützen und hielt das Ineinandergreifen beider für die unanfechtbare Gewähr ihrer Richtigkeit. Aber als er mit diesen neuen Forschungen hervortrat, wurde die Ablehnung der Presse zum Hohngelächter; auch seine Anhänger sagten ihm die Gefolgschaft auf. Das steigerte ihn nur noch mehr, seine Flugschriften, womit er die Gegner überschüttete, bekamen einen immer beißenderen Ton und zogen ihm noch kostspielige Beleidigungsklagen und andere Unannehmlichkeiten zu. Diese Aufregungen erschütterten ihn so, dass er zuletzt in Prozesswut und Verfolgungswahn fiel und in geistiger Umnachtung endete. Sein beträchtliches Vermögen, das später einmal mir zufallen sollte, war fast ganz verpulvert, kaum, dass der Witwe die Mittel zum Leben blieben. Was schadet’s? Mein wahres Erbe ist der Schatz auf der Gnitahaide, der Geist des Arminius, der von mir erlöst werden will. Es braucht nur wie für jedes Beschwörungswerk Ort und Stunde. Der Ort ist glücklich gefunden: das Stübchen des irren Dichters, aber die Stunden sind nicht alle gleichwertig und wehe, wenn die rechte ungenutzt verstreicht.
Ja, jetzt begreife ich, was es Ihnen sein muss, wenn ein Dritter sich zwischen Sie und Ihre Gestalten schiebt, antwortete ich.
Ort und Stunde, das ist’s, fuhr er wie zu sich selber redend fort: das ist das einzige, was der Dichter selber dazu tun kann, alles andere ist Eingebung, kommt ihm von außen. Es heißt nur aufmerken, Augen und Ohren offen halten, unverwandt und treu und reinen Sinnes, damit nichts Unechtes sich eindrängt, nichts, was der eigene Verstand, der Stümper, gemacht hat, denn das ist Falschmünzerei. Nur das soll Einlass finden, was von selbst zur Erscheinung ringt! Nicht bloß das Ganze des Werkes ist von Uranfang da, jeder kleinste Teil ist es auch bis zum einzelnen Wort herunter, das durch kein anderes ersetzt werden kann. Ich fühle es gleich, wenn auch nur an einer Stelle ein angeflicktes Wort steht. Weg mit dem Einschiebsel! Wachen und harren, bis das rechte sich einstellt!
Ja, dieser ist wirklich ein Gefäß der Gottheit, sprach es in mir. Aber was macht er aus seinem reichen begnadeten Ich, was macht er aus seinem eigenen Leben!
Es war, als hätte ich laut gedacht, denn er fiel ein:
Das ist das Dämonische an den großen Dingen, dass, wer nur einmal ihr Angesicht aus der Nähe geschaut hat, ihnen für immer verfallen ist und keinen, aber auch keinen Genuss vom Dasein finden kann als durch sie. Welches schwächliche Strohfeuer ist dagegen die Liebe! Ich verlange nichts vom Leben als nur mein Werk. Ich verzichte im voraus auf Weib und Kind und alles, was man sonst Lebensglück nennt, ich will nur den »Befreier« vollenden, mag ich danach zugrunde gehen. Aber nicht eher, nicht eher! Ich wage kaum des Abends mich schlafen zu legen, aus Furcht, der Tod könnte mich unversehens im Schlaf überfallen und mein Werk könnte unfertig zurückbleiben. Mein tägliches Morgen- und Abendgebet heißt: Mein Gott, nimm mir alles, mache mich, wenn es sein muss, blind und taub, aber lass mich nicht sterben, bevor der Arminius vollendet ist.
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