Mit Riesenschritten ging es jetzt in die Verweltlichung hinein. Auf die Freuden der Schlittschuhbahn folgten die der Tanzstunde, die mit Menuettverbeugungen und dem Auswärtsdrehen der Füße mittels Schienen begannen. Da mir aber Lili schon die ersten Tanzschritte beigebracht hatte, wurde ich bald in die höheren Grade aufgenommen und durfte nun selber mit den Obergymnasisten durch den Saal wirbeln. Der Geist Lilis schwebte immer mit, auch als sie Tübingen schon verlassen hatte, und gab der nicht allzu stilgerechten Veranstaltung Anmut und Weihe. In einem Nebenbau der Alten Aula, zu dem man von der Münzgasse auf steinernen Stufen hinunterstieg, befand sich ein völlig schmuckloser Saal mit grob gehobeltem Fußboden, worin die Tanzstunde abgehalten wurde; das Stimmen der Geigen kündigte sie von weitem an. Diese quietschenden, unschönen Töne hatten nichtsdestoweniger für das junge Ohr einen zauberischen Wohllaut, der das Herz schneller schlagen machte. Die sehr jugendlichen »Herren«, die auf der einen Seite des Saales beisammen standen, holten sich mit der eben eingelernten Verbeugung die »Damen« aus der anderen, und nun galt es im Gedränge der Paare sich ohne Anstoß um die Säulen winden. Zuweilen ließen sich auch die Füchse der eleganten Studentenkorporationen zu dem Lämmerhüpfen herbei; es war aber eine zweifelhafte Ehre, da diese Herren augenscheinlich an uns Allzujungen die Artigkeiten einübten, die sie hernach auf den Museumsbällen den reiferen Jahrgängen zu erweisen hatten.
Lili war unterdessen von ihrer Mutter zurückgeholt worden, aber ihr Einfluss dauerte fort. Auch erschien sie in kürzeren Abständen immer wieder in Tübingen und verdrehte bei ihrem jedesmaligen Aufenthalt viele junge Köpfe. Ihre Mutter wünschte, dass sie sich früh verheirate, deshalb verlobte sie sich fünfzehnjährig zum ersten Mal mit einem jungen Mann, den sie in unserem Hause kennen lernte. Die uns befreundete Familie empfing die reizende Braut mit offenen Armen. Aber ihr Herz hatte nicht mitgesprochen, und bald danach trat sie den Schwankendgewordenen, dem eine etwas ältere Freundin ein leidenschaftliches Gefühl entgegenbrachte, bereitwillig an diese ab. Es war kein Opfer, aber doch für sie bezeichnend, denn bei ihrer großen Güte und Nachgiebigkeit wäre sie auch imstande gewesen, auf einen geliebten Mann um einer anderen willen zu verzichten. Das Obergymnasium war ihr jetzt keine Merkwürdigkeit mehr, wohl aber seine ehemaligen Zöglinge, die man auf den Studentenbällen wiederfand. Sie hatte sich ein Verzeichnis ihrer Verehrer angelegt, in dem sie fleißig blätterte, um keinen zu vergessen. Je nach dem Rang, den der eine oder der andere vorübergehend in ihrem Herzen einnahm, wurden durch Versetzen der Namen die Plätze gewechselt, sodass sich ihr kleines Taschenbüchlein mit den Aufzeichnungen in beständiger Wandlung befand. Nach jedem Tanzvergnügen ging wieder eine Verschiebung vor sich, aus der sie mir kein Hehl machte. Ihre kleinen Koketterien waren voll Unbewusstheit, ohne eine Spur von Berechnung. Ihr gefiel ausnahmslos das ganze männliche Geschlecht, und sie konnte es nicht begreifen, dass ich mir schon damals die jungen Ritter sehr genau zu beschauen pflegte. Einem so liebenswerten Geschlecht wieder zu gefallen, war ihr angeborenes, innigstes Bestreben, und wem hätte Lili nicht gefallen sollen? Wie die Ottilie der Wahlverwandtschaften musste man sie eigens darauf aufmerksam machen, dass es für ein junges Mädchen nicht schicklich sei, jungen Männern einen fallengelassenen Gegenstand aufzuheben, denn ihre unschuldige Verehrung für das stärkere Geschlecht trieb sie in solchen Fällen, sich eiligst zu bücken oder gar einer weggewirbelten Studentenmütze voll Eifer nachzuspringen, Dinge, die damals bei der viel strengeren Etikette zwischen den Geschlechtern weit mehr auffielen als heute, und die meine Eltern ihr sorgsam abgewöhnten, damit nicht irgendein Frechling die harmlose Zuvorkommenheit des jungen Mädchens missdeute.
Mir bezeigte sie ihre Gegenliebe auf eine besondere Art, indem sie sich der Stilisierung meines Äußeren bemächtigte. Die armdicken Flechten, die ich damals noch einfach niederhängend oder mehrfach um den Kopf geschlungen trug, waren ihr zu kindlich; sie selber ordnete ihr schönes Haar zu modischen Fantasiegebäuden. Die gleiche Arbeit nahm sie jetzt mit dem meinigen vor, indem sie bald »gesteckte Locken«, von ährenartig geflochtenen sogenannten Kornzöpfen umrahmt, auf meinem Scheitel auftürmte, bald mein Haar in griechische Knoten wand oder gar neben einer steifen Turmfrisur rechts und links die modischen »Schmachtlocken« zurecht drechselte. Lauter prächtige, aber für mein Lebensalter zum mindesten stark verfrühte Dinge. Niemand wehrte der Torheit. Mein Mütterlein, das niemals älter war als ich, ließ uns beide völlig gewähren und hatte ihre helle Freude an den mit mir vorgenommenen Verwandlungskünsten. Mein Vater schüttelte zwar den Kopf, aber sein Einspruch beschränkte sich auf die Bemerkung, wie er sein Kind kenne, werde sie das alles künftig einfacher halten. Es versteht sich, dass nun auch mein Anzug unter Lilis Einfluss geriet. Bisher war ich gekleidet wie die Lilien auf dem Felde. Mein sparsames Mütterlein, das noch in den ersten Tübinger Jahren die Knabenkleider alle selbst verfertigte, hatte für Mädchensachen gar kein Geschick, und das war mir lange Zeit zugute gekommen. Denn ihre Jugendfreundinnen ließen sich’s nicht nehmen, jahraus, jahrein für ihr Töchterlein tätig zu sein. Da kam immer von Zeit zu Zeit irgendein Pack mit den schönsten Dingen für mich an, wie handgestickten russischen Hemden, goldverschnürten Tuchspenzerchen und anderen Prunkstücken, die jedes Mal großen Jubel erregten. Wie ich nun der Kindheit entwuchs, wurden diese Sendungen allmählich seltener, und was zu Hause ergänzt werden musste, konnte vor Lilis Augen nicht bestehen. Ich hatte sonach keine Wahl, als die eigene Geschicklichkeit auszubilden, die mich mit der Zeit instand setzte, den Tand, der jungen Mädchen zum Persönlichkeitsgefühl unerlässlich ist, selber herzustellen. Aber der ungünstig gesinnten Umwelt konnte ich es nun einmal auf keine Weise recht machen. Meine harmlosen kleinen Kunstfertigkeiten, die nichts kosteten als ein bisschen Zeit und Mühe, wurden mir als sträfliche Verschwendung ausgelegt und genau so verdammt wie mein Heidentum und mein Latein. Um den wahren Sinn solcher jugendlichen Putzsucht zu begreifen, muss man selbst in jenen so unendlich einfachen Zeiten gelebt haben. Damals trugen all die niedlichen Gegenstände, die man sich selbst erfinden und zusammenstellen musste, einen ganz persönlichen Stempel, sie gehörten zu den wenigen Ausdrucksmöglichkeiten der unreifen, suchenden Seele und wurden auch von den Altersgenossen so aufgefasst. Denn die Jugend sieht in allen Dingen Symbole. Gesteht doch der strenge Rousseau, dass er in jungen Jahren nicht den schönsten Mädchen huldigte, sondern denen, die den meisten Putz und Schmuck besaßen. Als ich mir einmal in einem bekannten Putzgeschäft unter all den wohlriechenden Gegenständen ein weißes Frühlingshütchen mit einem taubehangenen Vergissmeinnichtkranz aussuchen durfte, da ging ich mit einem erhöhten Lenzgefühl umher, als trüge ich ein Eichendorffsches Frühlingslied auf dem Haupte. Mein Mütterlein klagte oft, dass ich seit der Freundschaft mit Lili völlig verdummt sei und nichts mehr im Kopf hätte als Backfischeitelkeiten. Es war auch wahrlich kein kleiner Sturz: vor kurzem noch auf den höchsten jambischen Stelzen, mit einer Gracchentragödie und einem Epos über den Untergang Karthagos beschäftigt und jetzt nur noch mit Schmuck und Tand. Ich musste manches Scheltwort der Brüder hören, und als eines Tages in der Kinderschule, wo unser Jüngster saß, bei den Sprüchen Salomonis im Kreise herumgefragt wurde: Was ist eitel? hob unser kleiner Balde als einziger sein Fingerlein und sagte: Meine Schwester! – – –
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