Mama, die ich zur Vertrauten machte, jubelte über diese Leistung. Mein messenischer Patriotismus und der gegen Sparta gerichtete Groll, in dem sie so etwas wie eine antipreußische Spitze zu fühlen glaubte, entzückten sie. Aber nun war es mit meinem Seelenfrieden vorbei. Temperamentvoll, wie sie in allem war, bemächtigte sie sich meines Schatzes und ließ ihn von Hand zu Hand gehen, ohne nach meiner Empfindung zu fragen. Ich besaß keine verschließbare Lade, in die ich ihn hätte retten können, wie der glücklichere Edgar, an dessen heimlich geschmiedeten Versen sich niemand vergriff. Es ging mir mit der Tragödie wie mit den Gedichten. In welche Schublade ich das Heft verstecken mochte, es wurde immer wieder ausgegraben, und der geschmeichelte Mutterstolz, die Neckereien der Brüder, die neugierigen Fragen fremder Besucher schufen mir mein eigenes Machwerk zum Plagedämon um. Denn, ob Lob oder Tadel, man konnte mich nicht tiefer kränken, als indem man überhaupt von seinem Dasein wusste. Und keine Seele betrat das Haus, die nicht davon erfuhr. Ich stand wie in einem Regenguss, der mich bis auf die Haut durchnäßte. Es gab dann Tränen und Vorwürfe, die nicht das geringste fruchteten. Nur der Vater verstand mich, er fuhr mir lächelnd mit der Hand über die Stirn und sagte nichts; wie war ich ihm für sein Zartgefühl dankbar! Noch nach Jahresfrist – man weiß, was die Länge eines Kinderjahres besagen will – war die unglückliche Messenierin nicht vergessen. Ich erinnere mich eines Vormittags, wo ein fremdes Ehepaar nach meinen Eltern fragte. Gleich darauf kam mein Mütterlein hergeflogen (ihr Gehen war immer wie ein Fliegen) und rief triumphierend zur Tür herein: Moritz Hartmann ist da! Wir hatten diesen Namen oft von ihr gehört als den eines Dichters und Freiheitsmannes, dem sie in ihrem Herzen einen Altar errichtet hatte. Die Reimchronik des Pfaffen Maurizius führte sie häufig im Munde. Auch von der sprichwörtlichen Liebenswürdigkeit des österreichischen Poeten war schon die Rede gewesen. Alle teilten ihre Freude, dass er so unerwartet nach Tübingen gekommen war. Nur mir mit meiner griechischen Tragödie auf dem Gewissen schwante Arges. Und richtig war noch keine Viertelstunde vergangen, so wurde ich ins Besuchszimmer gerufen. Da stand der berühmte Gast schon im Aufbruch vor dem Kanapee, ein Mann von wenig ansehnlichem Wuchs – an der Seite meines hochgewachsenen Vaters erschien er fast klein –, aber edelgeschnittenem Gesicht mit schwarzem Bart und Haar; neben ihm eine lächelnde Frau, deren Erscheinung einen Eindruck von stiller Harmonie und Güte hinterließ. Und richtig galt sein erstes Begrüßungswort meinem Trauerspiel. Er hatte aber nichts von der schulmeisterlichen oder ironischem Überlegenheit, mit der sonst Erwachsene in solchen Fällen Kinder behandeln; nur ein ganz kleiner Schalk ging durch seine Miene, als er fragte:
Was ist denn der Titel des Stücks? Darf ich raten? Es heißt gewiss: Der gemordete Backfisch.
Mein Mütterlein, das die Antwort nie abwarten konnte, rief schnell dazwischen: Es heißt Die Tochter des Aristodemus.
Da ging ein liebenswürdiges Lächeln über das Gesicht des Dichters, dass ich mit einem Ruck um Jahre gescheiter ward und ohne allen Unmut sagen konnte: Sie haben es getroffen, es ist wirklich der gemordete Backfisch.
Dagegen griff es meiner Mutter ans Herz, dass ihr Parteifreund Ludwig Pfau mir beim Lesen meiner Versuche kopfschüttelnd das Schicksal der Wunderkinder prophezeite, die ihre verfrühten tauben Blüten mit lebenslänglicher Unfruchtbarkeit büßen. Er war wohl der einzige Mensch, der meine Mutter auf die Gefahr aufmerksam machte, in der sich die Kinder des Genies befinden, wenn sie gleichsam im Mitbesitz der väterlichen Gaben aufwachsen und ihnen von Eltern und nachsichtigen Hausfreunden eine Anerkennung vorgeschossen wird, die sie hernach nicht aus eigener Kraft abverdienen können. Solche psychologisch wohlbegründeten Bedenken taten ihr weh und wollten ja auch wirklich auf unser Haus nicht passen, wo die erste Voraussetzung dazu fehlte: der väterliche Erfolg, die weiche Luft äußerer Ehren und Vorteile, worin die Ansprüche wachsen und die Selbstständigkeit verkümmert. Uns Kindern war im Gegenteil das Leben außerordentlich schwierig gemacht. Wir sahen des Vaters Größe unverstanden oder halbvergessen und litten selbst für die Ideale unserer Eltern, ehe wir diese Ideale verstehen konnten. Und da nicht nur die äußeren Verhältnisse an uns hämmerten, sondern sich die Geschwister auch noch gegenseitig diesen Dienst erwiesen, wurde die mütterliche Verwöhnung reichlich aufgewogen.
Als ich sah, dass meine Heimlichkeiten immer aufs neue entweiht wurden, beschloss ich aus Zorn und Gram, die Eingebungen, die mir kamen, künftig lieber gar nicht mehr aufzuschreiben, und nun versiegten sie allmählich ganz. Ich war’s zufrieden, denn ich hoffte, durch dieses Opfer mit dem Leben besser in Einklang zu kommen. Eine Vorstellung wirkte dabei besonders mit: Mamas Jugendgenosse Alfred von Thumb sagte mir zuweilen, wenn er von seinem Unterboihingen herüberkam, warnend: Nur kein Blaustrumpf werden! Ich stellte mir darunter ein unschönes, körperlich vernachlässigtes und geistig verdrehtes Wesen mit kurzem Haar und Brille vor und bäumte mich gegen den Gedanken auf, eine ebensolche Vogelscheuche werden zu sollen. Das »Wunderkind« machte also die übereilten Erwartungen wie auch Besorgnisse zuschanden, denn der verfrühte Trieb, der noch gar keinen Lebensstoff zum Gestalten hatte, legte sich zu einem langen Gesundheitsschlaf nieder und ließ sich durch keine mütterliche Ungeduld mehr aufrütteln.
Noch in meinem elften Jahre war eine Gestalt in unseren Familienkreis getreten, durch die allmählich mein inneres Leben ganz umgeschaltet wurde und die am meisten dazu beitrug, dass die treibhausartige geistige Entwicklung zum Stillstand kam. Eines Tages erschienen da zwei unangemeldete Gäste, Mutter und Tochter, aus Mainz. Die hübsche, sehr lebenslustige Mutter, eine Freundin der meinigen, stand im Begriff zu Frau Wilhelmi nach Spanien zu reisen; ihr Töchterlein Lili sollte unterdessen im Schutze meiner Eltern in Tübingen bleiben und an meinen Unterricht teilnehmen. Lili war zwei Jahre älter als ich, nicht größer, aber viel entwickelter und trug auch schon halblange Kleider, während die meinen nur bis an die Knie gingen. Sie war ebenso wie ihre Mutter mit Geschmack und einer gewissen Koketterie gekleidet, und die leichte rheinische Mundart stand ihr allerliebst. Beim ersten Eintritt war sie, aus einer stillen, zierlichen Damenwohnung kommend, ein wenig bestürzt über den wilden Umtrieb in unserem Hause und zerdrückte, wie sie mir später gestand, heimlich ein paar Tränen. Aber sie wusste sich taktvoll zu schicken. Ihr munteres Mainzer Naturell fand schnell den rechten Ton, und als man uns beide nach dem Nachtessen zu Bette schickte, war schon eine Freundschaft fürs Leben geschlossen, deren Herzlichkeit niemals im Lauf der Jahre durch einen Hauch getrübt werden sollte. Es ist etwas Eigenes und Heiliges um solche Jugendfreundschaften, auch wenn sie gar nicht auf der Grundlage des geistigen Verstehens aufgebaut sind. Wären wir uns zehn Jahre später zum ersten Mal begegnet, so hätten wir schwerlich eine Brücke zueinander gefunden, aber jenes empfängliche Alter vermag auch das Ungleichartigste aufzunehmen und festzuhalten, ja dies ist ihm recht eigentlich zur Erweiterung des Gesichtskreises ein Bedürfnis. Solche Jugendfreundschaften nehmen mit den Jahren ganz das Wesen der Blutsverwandtschaft an: man fährt fort sich zu lieben und fragt nicht nach den abweichenden Lebensanschauungen, die bei neuen Bekanntschaften ein so großes Hindernis bilden.
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