Unterdessen hatte auch das Lesegift, womit ich mich durchtränkte, allmählich aus sich selbst ein heilsames Gegengift erzeugt: ich begann selber zu schreiben, was die Ängste wundersam beschwichtigte. Der derbe, volkstümliche Stil des Faustschen Puppenspiels hatte mir’s angetan und drängte mich, ein Drama in der gleichen Stilart zu verfassen. Ich wählte mir einen Helden aus der vaterländischen Geschichte, Herzog Ulrich von Württemberg, nicht als hochherzigen Verbannten, wie ihn Hauff verherrlicht hat, sondern vor seinem Sturz in der Tyrannenlaune. Woher ich das geschichtliche Rüstzeug erhielt, weiß ich nicht mehr, vermutlich beschaffte es der gute Papa aus der ihm unterstellten Universitätsbibliothek. Ulrichs Ehezwist mit der zungenschnellen Sabine von Bayern und die Liebe zu der schönen, sanften Ursula Thumbin, der Gemahlin seines Stallmeisters Hans von Hutten, gab die Fabel des Stückes ab. Dass ein später Nachfahr des Thumbschen Geschlechtes, der Baron Alfred Thumb, ein Jugendfreund und ehemaliger Verehrer meiner Mutter, nach dem mein Bruder Alfred benannt war, uns häufig besuchte und uns auf sein Schlösschen in Unterboihingen einlud, hatte auf meine Muse begeisternd miteingewirkt. Natürlich durfte der von der Fama umhergetragene Fußfall des stolzen Herzogs vor seinem Vasallen, den er vergeblich mit ausgebreiteten Armen anflehte, zu gestatten, »dass er seine eheliche Hausfrau liebhaben möge, denn er könn’ und wöll’ und mög’s nit lassen«, in meinem Stück nicht fehlen. Ich ließ sogar in meiner Einfalt den Landesvater einen Frauentausch vorschlagen, der von dem Hutten mit Hohn zurückgewiesen wird.
Und da nun dieser, nachdem er den kitzligen Vorgang stadtkundig gemacht, so unvorsichtig ist, dem tiefgekränkten Gebieter ungewappnet zur Jagd im Schönbuch zu folgen, überfällt und erschlägt ihn der Furchtbare im einsamen Forst und hängt höchsteigenhändig den Toten an eine Eiche, wie in der Geschichte Württembergs mit kleinen Abweichungen zu lesen. Am Schluss musste noch Ulrich von Hutten als Vetter des Erschlagenen und als Genius einer neuen Zeit auftreten und dem Despoten seinen feierlichen Bannfluch zuschleudern: Tu Suevici nominis macula! usw., was sich in dem Humanistenlatein sehr stilgemäß ausnahm. Die Handlung ging Schlag auf Schlag und war durch eine ungemein drastische Sprache noch mehr belebt; Herzog und Stallmeister bewarfen sich mit Hohnreden wie die homerischen Helden. So kam es, dass das Stück bei den sonst sehr kritischen Brüdern eine günstige Aufnahme fand, und da man in den Weihnachtsferien war, wo sie Zeit hatten, sich mit meiner Muse zu beschäftigen, wurde beschlossen, es aufzuführen. Die gute Fina beschaffte einen Vorhang, durch den man einen Bühnenraum vom Wohnzimmer abteilen konnte, der Weihnachtsbaum musste symbolisch den ganzen Schönbuch vorstellen und war zugleich bestimmt, als Eiche den gehenkten Ritter zu tragen. Damit es nicht an einem Waldhintergrund fehle, malte ich noch mit grüner Farbe einen Laubbaum von unbekannter Familienzugehörigkeit auf die Rückwand unseres Kleiderschranks. Es waren köstliche Tage der gespanntesten Erwartung. Aber schon bei der Probe ereignete sich ein störender Zwischenfall. Edgar hatte den Herzog übernommen, ich spielte den gehenkten Ritter, und in der ersten Szene ging alles leidlich, als aber der bewusste Fußfall an die Reihe kommen sollte, weigerte sich der Darsteller des Ulrich und fand die vorgeschriebene Handlung unter seiner Würde. Wer ihn damals kannte, den seltsamen, jedem Gefühlsausdruck widerstrebenden, gänzlich spröden Knaben, der musste einsehen, dass er nicht zum Schauspieler geboren war und dass man ihm nicht zumuten durfte, vor der Schwester zu knien, auch nicht, wenn sie in Rittertracht steckte. Merkwürdig war nur, dass er sich nicht schon beim Lesen verwahrt hatte. Leider war die Verfasserin dieser Einsicht noch nicht fähig; vom Feuer ihrer Schmiede glühend, wollte sie die Änderungen, die er vorschlug, nicht zugestehen, sie schienen ihr nicht nur gegen die geschichtliche Echtheit, sondern auch gegen die Psychologie zu streiten, denn wenn der Herzog keinen Fußfall getan hatte, so brauchte er auch keine Selbsterniedrigung an dem Vasallen zu rächen, dieser konnte keinen Vertrauensbruch begangen haben, und damit fiel zugleich sein verhängnisvoller Leichtsinn weg, dem beleidigten Herrn allein ins Gehölze zu folgen. Da ich nicht nachgeben zu können glaubte, bat er sich aus, wenigstens jetzt in der Probe verschont zu bleiben; hernach bei der Aufführung wolle er schon alles recht machen.
Der große Tag kam heran, vor dem Vorhang saßen erwartungsvoll die Zuhörer, darunter mit bedenklicher Miene sogar das sonst bei unseren Spielen selten anwesende Familienhaupt, augenscheinlich mit einer bangen Ahnung kämpfend. Nicht ohne Grund, denn als der Vorhang aufgehen sollte, erhob sich hinter der Szene ein Wortwechsel, der nicht zum Stück gehörte und der bald in Weinen und Schluchzen überging. Edgar hatte mir nämlich vor dem Heraustreten zugeflüstert: Dass du’s weißt: ich tue den Fußfall doch nicht. Ich war in Verzweiflung; ich flehte ihn an, mein Stück nicht durch seine Halsstarrigkeit zu Fall zu bringen, ich wollte ja gern zehn Fußfälle vor ihm tun für diesen einen; umsonst, er blieb bei seiner Weigerung. Die Aufführung musste abgesagt werden; die Kulissen wurden weggeräumt, und die Eltern hatten alle Mühe, zwei fassungslose Kinder zu trösten, indem der Vater sein schluchzendes Töchterlein, die Mutter den tief erschütterten Sohn in die Arme nahm.
Aber die tragische Muse, die nun einmal herabgestiegen war, ließ sich so leicht nicht wieder verscheuchen, sie nahm vielmehr einen höheren Schwung, indem sie die Prosarede und den Stil des Kasperltheaters aufgab, um sich den klassischen Stoffen und dem heroischen Jambus zuzuwenden. Zunächst machte ich Mama die Freude, Voltaires »Merope«, die ihr unter seinen Dramen am besten gefiel, zu ihrem Geburtstag in deutsche Blankverse zu übersetzen. Als ich mit der Arbeit fertig war, gab mir die dabei erworbene metrische Gelenkigkeit die Lust zu einem eigenen Versuche ein, denn warum sollte immer Mr. de Voltaire zwischen mir und meinen Helden stehen? Dem ersten Messenischen Krieg, der gerade in der Geschichtsstunde an der Reihe war, entnahm ich meinen Stoff: Die Tochter des Aristodemus. Freilich ein etwas heikler Gegenstand für ein zwölfjähriges Mädchen. Aber ich führte das Stück durch alle fünf Akte hindurch glücklich zum Schluss, wobei ich über den verfänglichen Punkt glatt hinwegkam, vermutlich hatte ich ihn selber nicht ganz verstanden.
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