Zur Begütigung erlaubte sie mir zuweilen, ihre schöne messingbeschlagene Schatulle herbeizuholen und in den alten Liebesbriefen zu wühlen, die ihr in Jugendtagen geschrieben worden waren. Da erbauten mich vor allem die Episteln eines 48er Flüchtlings Namens Elias, dessen leidenschaftliche Überspanntheit ganz nahe an Geistesstörung grenzte. Einmal schrieb er, wenn sie je der Sache der Freiheit untreu würde, um einen Standesgenossen zu heiraten, so würde er das Exil brechen, um sie mit eigener Hand zu erdolchen. Dieser arme Elias mit dem so gut zu dem Namen passenden Prophetenton wurde zu einer heiteren Märchengestalt meiner Jugend, und oft schilderte ich ihn meiner Mutter, wie er auf feurigem Wagen rotdurchleuchtet und flammenhaarig daherkam, um sie zu holen. Einer seiner letzten Briefe schloss mit den Worten: Legt’s Haupt heldenhaft hin, Ehre gibt’s nur drüben überm Tode. Hinweg den Blick! Wenn ich diese Stelle mit possenhaftem Pathos vorlas, so riss mich mein Mütterlein wohl entrüstet am Zopf, den sie eben flocht, aber sie konnte sich doch nicht erwehren, mitzulachen.
Besagte Schatulle verbarg außer den Briefen noch andere Kostbarkeiten, wovon uns Kindern keine so merkwürdig war wie das Rote Album, der tollste Nachklang des Jahres 1848.
Ludwig Bamberger weist in seiner Einleitung zu der Reimchronik des Pfaffen Maurizius darauf hin, dass das »tolle Jahr« sich in der überlebenden Vorstellung als ein Zeitpunkt lustigen Wahns festgesetzt habe und dass diese falsche Auffassung aus dem geraden Gegenteil einer heiteren Täuschung, aus der hoffnungslosen Selbstironie der besten und tapfersten Achtundvierziger entsprungen sei. Von diesem Galgenhumor der Revolution gab es vielleicht kein schlagenderes Beweisstück als das Rote Album meiner Mutter. Mit seinem grellroten Einband und noch röteren Inhalt, mit roter Tinte auf rotes Papier beschrieben, war es der »Bürgerin Brunnow« im Jahre 1849 als ein Angebinde der Demokratie überreicht worden. Die verschiedenen Handschriften und die zum Teil ganz unorthografische Schreibweise sollten den Eindruck erwecken, als ob Parteigenossen von allen Bildungsstufen sich an der Widmung beteiligt hätten. In Wahrheit hatte das Büchlein nur einen Verfasser, den begabten Philologen Adolf Bacmeister, denselben, dem einst mein fünfjähriges Herz gehört hatte. Er war einer von den tiefgründigen Schwabensöhnen, die anderwärts als Zierde eines Stammes geehrt würden, für die aber das enge Heimatland keine Verwendung fand. Seine achtundvierziger Vergangenheit verschloss ihm die akademische Laufbahn, zu der er geboren war, und er konnte lange Zeit nicht einmal die bescheidenste Anstellung im Schulfach finden. Nahe an den Dreißigen erhielt er endlich das armselige Amt eines »Kollaborators« (vom Volke Kohlenbrater benannt) in einer Kleinstadt, schleppte sich dann zehn Jahre lang mit einem Präzeptorat, bis ihn ein Ruf an die Augsburger Allgemeine Zeitung aus der Acht erlöste. Durch seine Übersetzungen mittelhochdeutscher Dichtungen und seine Allemannischen Wanderungen, eine geistreiche Studie über die Herkunft deutscher Ortsnamen, hat er sich auch literarisch bekannt gemacht.
In dem Roten Album nun war die fantastische Zeitstimmung mit den Einzelheiten und den Anspielungen, die damals jedermann verstand, in Vers und Prosa niedergeschlagen. Da tönte die alte, in unseren Jugendtagen schon verschollene Weise:
Wenn die Fürsten fragen:
Lebt der Hecker noch?
Sollt ihr ihnen sagen:
Hecker, der lebt hoch!
Aber nicht am Galgen,
Nicht an einem Strick,
Sondern an der Spitze
Deutscher Republik.
Ein Proletarier schrieb:
Weil das Freilein es gewollen hapent, dass ich in den Alpus schreiben soll, so will ich es eben dun:
I ka’ keine Versle mache,
I verstand et selle Sache,
Drum ruf i mit wildem Blick:
Hurra hoch die Rebolik.
Ein Pennäler, der als »Uldimus in der 2ten Glass« zeichnet, verewigte sich durch den kurzen Spruch:
Hecker, Struwe, Ziz und Blum,
Kommt und bringt die Breißen um!
Die Verse gegen die Reaktion, das Gottesgnadentum, die Kirche usw. sind zum großen Teil so stark gebeizt, dass sie auch heute nicht veröffentlicht werden könnten. Übrigens wird auch die eigene Partei nicht geschont in jenem Hang zur Selbstverspottung, den Bamberger hervorhebt. Da spricht ein Tübinger Referendar vom Balkon der Aula herab zu der Volksversammlung: Aus jedem Tropfen Blute Robert Blums muss ein Märtyrer für die Freiheit erstehen. Ich bin ein solcher Tropf. Seid ihr auch solche Tropfen? (Schwäbisch für Tröpfe gebraucht.) Chor der Bürger und Studenten: Ja!
Auch vor der Empfängerin selbst macht der tolle Humor nicht halt. In mannigfaltigen Zeichnungen wird sie dargestellt, bald in rasendem Tanz um den Freiheitsbaum, bald als Amazone in Wehr und Waffen, bald im blutrocken Rock, von den Truthähnen des Dorfes verfolgt. In einem Roman Die Königin und der Ipsergeselle erscheint sie als Hauptperson, und in der blutrünstigen Tragödie Der Tyrann stirbt sie als freiheitliebende Prinzessin Billburalia an der Seite des geliebten Handwerksburschen auf der Barrikade.
Das Rote Album war vor allem das Entzücken meiner Brüder, die es auswendig wussten und stets im Munde führten. Edgar verfasste noch in Mannesjahren, als wir in Florenz lebten, einmal zu Mamas Geburtstag ein Seitenstück dazu, das zwar an Geist und komischer Kraft das erste bei weitem übertraf, aber gleichwohl keinen solchen Erfolg mehr erzielen konnte, weil es nur persönliches Erzeugnis und nicht, wie jenes, der Ausdruck einer Zeitstimmung war.
Wenn die alten Achtundvierziger zusammenkamen, so lag eine Verklärung auf ihren Gesichtern, sie sagten: Weißt du noch – der Völkerfrühling! Und zauberten durch ihre bloßen Mienen für die Nachgeborenen das Bild einer kurzen, unbeschreiblich schönen Zeit herauf, wo das Glück leibhaft auf Erden gewandelt und wo alle Menschen Brüder gewesen. Bis die Reaktion mit eisigem Hauch vom Nord all diese Wunderblüten geknickt und den Völkermai in Eis und Schnee begraben hatte. Unsere realistischere Josephine erzählte freilich auch Anekdoten aus dem Völkerfrühling, die zeigten, dass der Freiheitskampf nicht von allen Seiten gleich ideal aufgefasst wurde, wie das Stücklein von jener Nachbarsfrau, die jubelnd sagte: Teile wellet se, teile! – und ihrem ausziehenden Freischärler nachrief: Dass du mir ja eine neue Matratze mitbringst! – Meine Eltern gehörten beide zu den alten Achtundvierzigern. Doch ging mein gemäßigter, politisch viel tiefer blickender Vater darin lange nicht so weit wie meine Mutter. Besonders teilte er ihr Vertrauen auf ein selbstlos für anderer Völker Freiheit eintretendes Frankreich durchaus nicht. Hatte er doch in seinem schönen »Vaterlandsgedicht« von 1848 die Stelle:
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