Ich hatte damals für ihre immer wiederkehrende Faustische Klage, ›dass wir nichts wissen können‹, wenig Sinn. Die Tatsache unseres Hierseins war mir noch so neu und merkwürdig, dass ich nicht nach dem Woher und Wohin und am allerwenigsten nach dem Warum fragte. Dagegen liebte ich es, ihre Philosophie durch ganz spitzfindige Fragen zu bedrängen, wie diese: ›Gesetzt, Papa hätte eine andere Frau genommen und besäße von ihr eine Tochter, du aber hättest einen anderen Mann und gleichfalls eine Tochter von ihm, welche von den beiden Töchtern wäre dann ich?‹ – Närrchen, dann wärest du eben überhaupt nicht vorhanden. – Das war mir nicht vorstellbar: Vielleicht wäre ich zweimal da, jedes Mal mit einer falschen Hälfte verbunden? – Aber, Kind, du redest ja den reinen Unsinn. – Oder wären die zwei vielleicht meine Schwestern? – Das wollte sie eher gelten lassen. – Aber, Mama, wenn ich gar nicht bin, wie kann ich dann Schwestern haben?! – Die philosophische Untersuchung endigte zuletzt, wie philosophische Untersuchungen immer enden sollten, mit einem Lachen.
Gänzlich unberührt vom häuslichen Wirrwarr lag des Vaters Studierzimmer. Dort waltete ich in seiner Abwesenheit ganz allein als Hüterin des Tempelfriedens. Schon in seinen frühen Ehejahren hatte er sich’s ausbedungen, dass keine Hand in häuslicher Absicht sein Schreibepult berühre (er arbeitete immer stehend), bis seine Tochter daran heraufgewachsen sei. Sobald meine Größe es erlaubte, trat ich mein tägliches Amt an, das Pult zu säubern und die Studierlampe in Ordnung zu halten. Es war dies so ziemlich die einzige häusliche Verrichtung, zu der ich überhaupt zugelassen wurde. Die wenigen Male, die ich sie gedankenlos versäumte, blieben mir schwer auf der Seele, denn dass er beim Nachhausekommen schweigend und ohne ein Wort des Vorwurfs nach dem Petroleumkännchen griff, hinterließ mir einen viel tieferen Eindruck, als es der schärfste Tadel vermocht hätte.
Wer nun aber aus der Gleichgültigkeit meiner Mutter gegen die äußeren Lebensbedingungen schließen wollte, sie sei meinem Vater auch eine schlechte Geldverwalterin gewesen, der würde gröblich irren. Sie verstand sich auf das Einteilen und Sparen in einer Weise, die auch noch im Weltkrieg vorbildlich wäre. Fast ohne Mittel fünf Kinder aufzuziehen, zu ernähren, zu kleiden, war oft eine nahezu unlösbare Aufgabe; sie hat sie dennoch gelöst, still, selbstverständlich, in höchster Würde, und, was mehr ist: in unerschöpflicher Freudigkeit. Das Glück, an seiner Seite zu leben, vergütete ihr jede Beschwerde. Ich erinnere mich nicht, dass es uns Kindern je am Nötigen gefehlt hätte. Auch kleine Freuden und Erholungen wurden uns nie versagt; wer zu kurz kam, war immer nur sie selbst. Daneben hatte sie die offenste Hand für alle Bedürftigen; sie wartete nie ab, dass ein Armer sie auf der Straße ansprach, sondern schlich ihm nach, bis sie ihm unbeobachtet geben konnte. Der jetzige Besitzer der Gmelinschen Apotheke in Tübingen erzählte mir, dass er oft als Kind am väterlichen Ladentisch mitangesehen habe, wie sie sich leise an irgendeine arme Frau herandrängte, um ihr verstohlen ein Geldstück in die Hand zu stecken, was niemand wahrnahm als der Dreikäsehoch, der die Welt von unten sah. Und sie hatte wahrlich nichts übrig, jede Gabe musste durch vermehrtes Sparen ausgeglichen werden. Auch war sie immerzu häuslich tätig. Während sie dem einen Knaben die Hose flickte, nahm sie mit dem anderen seine Schulaufgaben durch, und wenn es nottat, griff sie im Haushalt auch beim Gröbsten zu, denn sie hielt dafür, dass keine Art von Arbeit schände. Nur die Hände ihrer Tochter sollten kein gemeines Geschäft verrichten; hier hatte der Demokratismus eine Lücke. Nicht einmal einen Kochlöffel zu berühren war mir erlaubt, so sehr ich bat mich in der Küche mitbetätigen zu dürfen, denn ich trug immer eine ungestillte Sehnsucht nach der Beschäftigung mit stofflichen Dingen in mir herum.
Am hellsten glänzten die Wirtschaftskünste meiner Mutter, wenn plötzlich unerwartete Gäste erschienen, was bei der noch allgemein verbreiteten altschwäbischen Gastlichkeit leicht geschah. Unser Raum war so beschränkt, dass kaum die Familie selber Platz hatte, von Gastzimmer mit Gastbett keine Rede. Aber im Nu war ein Lager bereit, der Tisch wurde gedeckt, Josephine buk und brotzelte in der Küche, und es herrschte eitel Freude im Hause. Wie gut es den Gästen gefiel, bewiesen sie dadurch, dass sie häufig wochenlang blieben. Dies ging zumeist auf meine Kosten, denn ich musste, da die Knaben nicht in der Ordnung gestört werden durften, alsdann mein Bett mit allen Bequemlichkeiten opfern. Mitunter fand ich nicht einmal mehr auf einem Kanapee Zuflucht, sondern musste mich mit zusammengestellten Stühlen begnügen, die, wenn man sich bewegte, auseinanderfuhren und die daraufgelegten Kissen zu Boden gleiten ließen. Es kam selten vor, dass ich einmal längere Zeit im ungestörten Besitze meines Bettes blieb. Darüber durfte kein Wort verloren werden, Mama gab ja auch das ihrige her. Freilich war auch der Gewinn auf meiner Seite, denn die Besuche, besonders die von weither zugereisten, brachten neues Leben und Weltweite mit, wonach ich dürstete. In solchen Zeiten hatte dann das Lernen und alle geregelte Tätigkeit ein Ende: der Brauch verlangte, dass wenigstens die weiblichen Glieder des Hauses sich völlig den Gästen widmeten.
Unter den kometenartigen Erscheinungen, die vorübergehend in unserem Hause auftauchten, strahlte besonders Frau Hedwig Wilhelmi, eine Freundin meiner beiden Eltern, die in Granada lebte. Sie war eine blendende, geistig angeregte Persönlichkeit von sehr freiem und rauschendem Auftreten, leidenschaftlich der materialistischen Richtung eines Vogt und Büchner ergeben, daneben auch literarisch angehaucht, kurz, nach ihrem ganzen Wesen eine in der damaligen Frauenwelt unerhörte Ausnahme. In ihren späteren Lebensjahren machte sie sich in Deutschland und Amerika durch sozialistische Propaganda bekannt, stieß mit den Ausnahmegesetzen zusammen und erlitt Gefängnis, Verfolgung und Ungemach aller Art, wodurch ihr Wesen herber und ihre Haltung schroffer wurde. Aber gern rufe ich mir ihr Bild zurück, wie sie in meine Kindheit trat, die bewegliche Gestalt, den feinen, etwas hart geschnittenen Kopf mit den sprechenden Augen, von kurzen braunen Locken kühn umflattert, die unvermeidliche Zigarre zwischen den Zähnen. Das Rauchen war an einer Frau damals noch etwas sehr Auffallendes, doch es ging ihr so hin, weil man in Deutschland glaubte, sie habe das in Spanien gelernt, die Spanier dagegen es für einen deutschen Brauch hielten. Ich kann sie mir gar nicht anders vorstellen, als in einem Kreise von Herren sitzend, deren sie immer eine Anzahl um sich haben musste, rauchend, trinkend, disputierend.
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