1 Florentinische Erinnerungen. <<<
Von Ihr. Nachklänge des tollen Jahres. Das rote Album.
Bevor ich weitergehe, muss ich hier einige Worte über die ureigene Persönlichkeit meiner Mutter vorausschicken, weil ohne einen Blick auf ihr Gesamtbild die einzelnen Züge ihres Wesens, wie sie bruchstückartig aus diesen Blättern hervortreten, nimmermehr richtig verstanden werden könnten. Sie wiederzugeben ganz so, wie sie war, ist ein Wagnis. Kein Bild ist leichter zu verzeichnen als das ihre. So ausgeprägt sind ihre Züge, so urpersönlich – ein einziger zu stark gezogener Strich, eine vergröbernde Linie, und das Edelste und Seltenste, was es gab, kann zum Zerrbild werden. Und nicht nur die Hand, die das Bild zeichnet, muss ganz leicht und sicher sein, es kommt auch auf das Auge an, das es auffassen soll. Wer gewohnt ist, in Schablonen zu denken, findet für das nur einmal Vorhandene keinen Platz in seiner Vorstellung. Es gab Philisterseelen, die in diesem unbegreiflichen Wesen nichts sahen, als ein wunderliches kleines Frauchen, das wenig auf seinen Anzug hielt und keine gute Hausfrau war. Für mich und alle, die sie wahrhaft kannten, ist sie immer das außerordentlichste menschliche Ereignis gewesen.
Wir waren so fest verwachsen, dass mein Gedächtnis ihre eigene Kindheit mit umschließt, als ob ich sie selbst erlebt hätte. Ich sehe sie, wie sie als Oberstentöchterchen in Ludwigsburg aus ihrem großen Garten, der an das Militärgefängnis stieß, das schönste Obst ihrer Bäume durch die vergatterten Fenster heimlich den Sträflingen zuwarf, voll frühzeitiger Empörung, dass es Menschen gab, die man der Freiheit beraubte. Wie die Gefangenen erfinderisch lange Schnüre herabließen, woran die Kleine ganze Würste, Kuchenstücke und was sie Gutes in Küche und Keller finden konnte, festband und so die erste rebellische Freude genoss, Gedrückten beizustehen. Ein andermal schwebt sie mir vor, wie sie ihre Ferientage bei dem Tantele zubringen durfte, der einzigen bürgerlichen Verwandten, die sie besaß und in deren Hause ihr am wohlsten war, weil es da ganz einfach zuging und sie tun und lassen durfte, was sie wollte. Ihr erstes war dann, alle Hüllen von sich zu werfen und ihr Sommerkleidchen auf den bloßen Leib anzuziehen, was ja viel kühler war, denn sie sah nicht ein, warum der Mensch so viele Umstände mit seinen Kleidern macht. In seligem Mutwillen zog sie die langen, ungeknüpften Kreuzbänder ihrer Schuhe durch den Straßenkot, glücklich, dass keine Gouvernante da war, sie zur Ordnung zu rufen, und dass kein Bedienter, der hinter ihr ging, sie an die Ungleichheit menschlicher Lose erinnerte. In diesen kleinen Zügen waren schon die Grundlinien ihres Wesens angedeutet: ihr tätiges Mitgefühl für die Bedrängten und Schwachen, der angeborene kommunistische Zug und der Rousseausche Drang nach Rückkehr zur allereinfachsten Natur. Wie sie dann im Jahre 1848 mit ihrer bevorrechteten Kaste brach, um auf die Seite des Volkes zu treten, habe ich in meiner Hermann-Kurz-Biografie erzählt.
Die unbegreiflichen Gegensätze waren in diesem Menschenbilde zu einer so einfachen und bruchlosen Ganzheit zusammengeschweißt, dass man sich in aller Welt vergeblich nach einer ähnlichen Erscheinung umsehen würde. Von sehr altem Adel, mit allen Vorteilen einer verfeinerten Erziehung ausgestattet und doch so ursprünglich in dunkler Triebhaftigkeit! Diese Triebhaftigkeit aber gänzlich abgewandt vom Ich, was doch der Natur des Trieblebens zu widersprechen scheint! Was andere sich als sittlichen Sieg abringen müssen, der selbstlose Entschluss, das war bei ihr das Angeborene und kam jederzeit als Naturgewalt aus ihrem Innern. Wenn ich mich umsehe, wem ich sie vergleichen könnte, so finde ich nur eine Gestalt, die ihr ähnelt, den Poverello von Assisi, der wie sie im Elemente des Liebesfeuers lebte und die freiwillige Armut zu seiner Braut gewählt hatte. Sein Sonnenhymnus hätte ganz ebenso jauchzend aus ihrer Seele brechen können. Auch in dem starken tierischen Magnetismus, der von ihr ausströmte, muss ihr der heilige Franziskus geglichen haben, denn um beide drängte sich die Kreatur liebe- und hilfesuchend. Kinder und Tiere waren nicht aus meines Mütterleins Nähe zu bringen. Auch das Irrationale und Plötzliche, das zum Wesen der Heiligen mit gehört, war ihr in oft erschreckendem Maße eigen.
Eine unerhört glückliche Körperbeschaffenheit kam ihren inneren Anlagen zu Hilfe. Sie hatte nahezu gar keine Bedürfnisse; Hitze und Kälte, Hunger und Durst wie auch der Mangel an Schlaf drangen ihr kaum ins Bewusstsein. Sie aß kein Fleisch, außer in den sehr seltenen Fällen eines plötzlichen Nachlasses, und auch dann nur einen Bissen, denn das Schlachten der Tiere gehörte zu den Dingen, die ihr die schöne Gotteserde verdüsterten. Mitunter lebte sie lange Zeit überhaupt nur von ein wenig Milch mit Weißbrot. Ihr kleiner, immer in Bewegung befindlicher Körper kannte keine Müdigkeit noch Erschlaffung. Fünf Kinder hatte sie an der Brust genährt, alle weit über die übliche Zeit hinaus, und ihre Kraft war dadurch nicht im mindesten geschwächt. Es gab Zeiten übermenschlicher Leistung in ihrem Leben, als sie ihren todkranken Jüngsten in seinen wiederkehrenden Leidenskrisen pflegte, Zeiten, wo sie des Nachts nicht aus den Kleidern kam, ihm heitere Mädchen und Geschichten erzählte, auch frei erfand; mit der Todesnot im Herzen, und doch am Tage ganz frisch wieder ins Geschirr ihrer häuslichen Pflichten ging. Was auch die vielgequälte Seele leiden mochte, der Körper nahm keinen Teil daran, er blieb schlechterdings unverwüstlich. Dabei hatte sie die Gabe, an jedem Orte, zu jeder Zeit und in jeder Stellung rasch ein wenig im voraus schlafen zu können; waren es auch nur Minuten, so erwachte sie doch immer neugestärkt. Sie rollte sich dabei ganz in sich zusammen und brauchte nicht mehr Raum als ein fünfjähriges Kind. Aber sie schlief dann stets mit Willen; vom Schlummer überwältigt habe ich sie nie gesehen. Ruhe und Gemächlichkeit widerstrebten ihrer Natur, beim ersten Morgenschein fuhr sie aus dem Bette und ging gleich an irgendeine Beschäftigung oder, wenn wir auf dem Lande lebten, hinaus ins Freie, denn der Sonnenaufgang war ihre Andachtsstunde. Bequem auf einem Stuhl zu sitzen, war ihr unerträglich. Sie saß immer irgendwo schwebend auf einer Kante wie ein eben herzugeflogener Vogel. Am liebsten aber kauerte sie, klein und leicht wie sie war, auf einem Schemel oder am Boden.
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