Dies waren die Anfänge von dem zwölfjährigen Kriege Philistäas gegen ein kleines Mädchen. Und ich musste gute Miene zum bösen Spiel machen, sonst hätte Mama mich noch gescholten oder ausgelacht. Sie hatte selbst in ihrer Jugend sich über alle Meinungen und Vorurteile der Menschen weggesetzt, um nach ihren selbsterwählten Grundsätzen zu leben; ihre Tochter sollte nicht schwächer sein als sie. Allein ihr war es hingegangen: sie war die in ihrem Dorfe verehrte Baronesse gewesen, die auch in ihren Kreisen als die erste herrschte. Selbst als sie im Jahre 48 zwischen sich und dem Stand, in dem sie geboren war, das Tischtuch zerschnitt, trugen ihr die Jugendfreunde und Verehrer ihre Abkehr nicht nach, sondern wahrten ihr, ob sie wollte oder nicht, eine ritterliche Anhänglichkeit; die Thumbs und Rantzaus und wie sie hießen, suchten sie immer wieder auf und ließen ihren Radikalismus ruhig über sich ergehen. Auch ihre entfernteren Verwandten – die nahen waren schon alle tot – hatten nicht mit ihr gebrochen, sondern sie mit ihnen, weil einer davon, ein junger Leutnant, bei Niederwerfung des badischen Aufstands im feudalen Übermut einen gefangenen Freischärler an sein Pferd gebunden hatte. Sie genoss auch in Tübingen um ihrer unerhörten tatkräftigen Güte willen bald allgemeine Verehrung. Als sie einmal bei einem gefürchteten jüdischen Geldverleiher zur Unterstützung eines in Not geratenen Studenten die nötige Summe in bar erhob, weil die von ihr und Ottilie Wildermut gesammelten Gelder nicht schnell genug fließen wollten, da nahm der angebliche Shylock von der Erstaunten weder Schein noch Zinsen und bat sie, sich in ähnlichen Fällen nur immer wieder an ihn zu wenden. Ich weiß nicht, ob es aus bloßer Hochachtung für ihre Person geschah oder ob er wusste, dass sie in ihrer Ritterlichkeit stets bereit war, gegen die an den jüdischen Mitbürgern verübte Unbill mit all ihrem Feuer zu Felde zu ziehen. Sie besaß eine ungeheure Macht über die Gemüter, wie es nur einem Menschen gegeben ist, der gar nichts für sich selber bedarf. Denn er allein ist der ganz Starke; die Genießenden und Bedürfenden sind immer die Schwächeren.
Aber das kleine Mädchen, das an ihrer Seite aufwuchs, genoss nicht dieselben Vorteile. Ich hatte keinen Umgang als die Brüder, zur Schule wurde ich nicht geschickt, und bei Maienfesten hatte ich wie in Kirchheim das Zusehen. Dabei erfüllte mich doch der glühende Wunsch, auch einmal dabei zu sein, dazu zu gehören. Nur einmal unter den Schulkindern mitspielen zu dürfen, es hätte mich selig gemacht! Aber wenn ich je mit anderen Mädchen zusammengebracht wurde, so merkte ich bald, dass ich ihnen unheimlich war, und auch ich wusste nichts mit ihnen anzufangen, denn statt mich »dabei sein« zu lassen, umstanden sie mich neugierig und forschten mich aus: ob es wahr sei, dass ich das Lateinische triebe und dass ich Goethe gelesen hätte. Bei der ersten und einzigen Kindergesellschaft, die ich mitmachte, bedrängten sie mich, ihnen ein Gedicht aufzusagen. Schnell überschlug ich im Geiste, was ich auswendig wusste, aber weder Die Götter Griechenlands, noch Der Gott und die Bajadere, noch sonst einer meiner Lieblinge wollte sich für den Anlass schicken. Von den himmelblauen und rosenroten Backfischgedichtchen, mit denen damals die weibliche Jugend aufgepäppelt wurde, führte keine Brücke zu meinen Dichtern hinüber. Ich flehte, mir die Pein zu erlassen, versicherte, kein einziges Gedicht zu kennen und sagte der Poesie das Schlimmste nach. Umsonst, meine Quälgeister ließen nicht locker. Da sagte ich ihnen, heimlich knirschend, den ersten Vers von »Schleswig-Holstein, meerumschlungen« auf, einem Lied, das damals durch alle Gassen lief, aber schon ganz abgenützt war, machte dann Schluss und erklärte meinen Vorrat für erschöpft. Von da an begehrte ich niemals wieder nach einer Kindergesellschaft.
Zu den aus meiner Erziehung fließenden Bedrängnissen, die mir den Umgang erschwerten, gesellten sich noch solche in meiner eigenen Brust. Dazu gehörte ganz besonders das Wörtchen Sie. Ich weiß nicht, ob es jemals anderen ähnlich ergangen ist, ich konnte das Wörtlein nicht aussprechen. Meinem natürlichen Sprachgefühl widerstrebte es aufs heftigste, eine anwesende Einzelperson als eine abwesende Mehrzahl zu behandeln. Die nahen Freunde der Eltern verkehrten wie Blutsverwandte im Hause, da verstand es sich von selbst, dass man ihnen das Du zurückgab. Aber jetzt wuchs man heran und fand sich unter lauter Fremden, wo sich das alte homerische Du nicht mehr schicken sollte. Und mit dem Sie war es doch so eine vertrackte Sache. Ich bekrittelte den Zopf ja nicht bei den Erwachsenen, mochten sie es nach ihrer Etikette halten, aber ich als Kind glaubte mich berechtigt, so lange wie möglich jeder Unnatur ferne zu bleiben. Es schien mir, als ginge ich auf Stelzen, wenn ich Sie sagen sollte, ich vermied es, Respektspersonen überhaupt anzureden und drückte mich auf lauter Umwegen um das Sie herum, bis der Kampf dadurch entschieden ward, dass die Menschen mich selber mit Sie anzureden begannen, was bei meiner täuschenden Körpergröße viel zu früh geschah. Da war mir zumute, als sei mir das Tor des Kinderparadieses schmerzhaft auf die Ferse gefallen.
Dieser kindlichen Nöte erinnerte ich mich unlängst, als mir die Schrift Fr. Böckelmanns: ›Ein Fleck im Gewande der deutschen Sprache‹ zugeschickt wurde. Was da über die Wiedereinführung des alten edlen Ihr gesagt ist, von dem Goethe sich so schwer trennte, in das er in seinen späteren Jahren gerne zurückfiel, das alles möchte ich wörtlich unterschreiben. Ich muss jedoch zu den von dem Verfasser gerügten Schäden des Sie noch einen nennen. Es übt im Umgang, verglichen mit dem Vous und You, eine erkältende, entfremdende Wirkung, vor der die ganze Sprache zu erstarren scheint. Ich konnte es späterhin im Auslande nicht fertig bringen, mit Französisch oder Englisch redenden Freunden, wenn sie mir einmal nähergetreten waren, meine eigene Muttersprache zu sprechen, auch wenn ich darum gebeten wurde, denn ich hatte das peinliche Gefühl, mit dem gespreizten Sie auf einmal eine Scheidewand aufzurichten. Die ganze sprachliche Einstellung sträubte sich, aus einem freundschaftlichen Vous in das starre, unpersönliche Sie überzugehen. Das Sie erschwert auch den Ausländern die deutsche Satzbildung (Skandinavier schreiben in deutschen Briefen meistens Sie hat statt: Sie haben ) und ist dadurch der Ausbreitung unserer Sprache hinderlich.
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