Von einem anderen Mediziner wurde erzählt, dass er als verbummelter Student mit sehr geringen Kenntnissen nach Amerika durchgebrannt sei und sich während des Sezessionskrieges den Nordstaaten als Arzt zur Verfügung gestellt habe. Dort stieg er bis zum Generalarzt auf. Aber nach Friedensschluss wurde ihm doch wegen seiner Stellung bange, er kehrte mit dem erworbenen Titel nach Tübingen zurück, hörte wieder Kolleg, und die Professoren, denen sein Auftreten Eindruck machte, ließen ihn denn auch glimpflich im Examen durchschlüpfen.
Unter den Kleinbürgern gab es ebenfalls ganz merkwürdige Gestalten, die von der Jugend mit Vorliebe ausgesucht wurden und die sich die studentische Gesellschaft zur besonderen Ehre schätzten. Eine der bekanntesten war der alte Hornung, ein uralter Veteran von 1813. Er saß jeden Abend im Wirtshaus und spielte Karten; dabei war er als sehr geizig bekannt. Edgar setzte sich in seiner Studentenzeit gern zu ihm und malte ihm, während er spielte, einen Kreuzer auf den Tisch. Da er nicht mehr gut sah und gern mogelte, griff er danach: Der ist auch noch mein! und wollte ihn einstreichen. Das nächstemal wurde der Kreuzer an eine andere Stelle gemalt, und er griff abermals danach. Auf den alten Hornung wurden in Tübingen die bekannten Napoleonanekdoten aus der Schlacht von Leipzig übertragen. Eine aber hörte mein Bruder aus seinem eigenen Munde: Ein französischer Sergeant hatte als Vorgesetzter den Mann viel drangsaliert. Als sie nun eines Tages Seite an Seite über einen Graben setzen, fällt der Franzose und ruft um Hilfe. Der Hornung aber reitet weiter, indem er mit Nachdruck spricht: Wer reit’t, der reit’t, und wer leit, der leit (liegt).
Die ganze bunte Tübinger Romantik gehörte nun aber einzig und allein dem Studenten. Daneben lebte und webte Tür an Tür das engste Spießbürgertum. Die Geselligkeit war durch strengen Kastengeist geregelt und entbehrte der Anmut. Die Frau als gesellschaftliche Macht versagte ganz. Man sah aller Enden hübsche junge Mädchen, aber äußerst selten eine hübsche junge Frau. Sobald sich die damaligen Schwäbinnen verheirateten, hielten sie nichts mehr auf ihre Person. Nach Pflege des Geistes und Körpers zu streben, galt für »Emanzipiertheit« und Eitelkeit und war überdies ein Zeichen mangelnder Hausfrauentugend. Es konnte vorkommen, dass der Mann hohe akademische Würden innehatte und dass die Frau Magddienste verrichtete. Nicht aus Not, sondern weil sie keine höheren Ziele kannte. So vermochte der ganze Lebensstil sich nicht zu erheben. Auch der Student lernte nur die Reize des Studentenlebens, nicht die einer höheren Geselligkeit kennen. Und wie fantastisch er’s getrieben haben mochte, am Schluss der Universitätsjahre musste auch er unterducken, sich der lähmenden Enge einreihen, wenn er im Lande sein Auskommen finden wollte. Darum klang auch so wehmütig der Sang der Abziehenden: Muss selber nun Philister sein, ade!
Um die aus den Tübinger Verhältnissen hervorgehende Einseitigkeit oder Verwilderung zu bekämpfen, war Friedrich Vischer, solange er in Tübingen lebte und lehrte, bemüht, die Verlegung der Universität in die Landeshauptstadt durchzusetzen. Damit wäre freilich zugleich aller Reiz der Überlieferung aus dem studentischen Leben geschwunden. Er fand aber mit diesem Lieblingsgedanken keinen Anklang und konnte nur für seine eigene Person die Wahl treffen, indem er endgültig das Stuttgarter Polytechnikum dem Tübinger Lehrstuhl vorzog und so die Universität eines ihrer größten Namen beraubte.
Wie viel man gegen das alte Tübingen auf dem Herzen haben mochte, die reizvolle, wunderliche Stadt mit dem kühnen Profil und der entzückenden Lage hat es noch allen angetan, die dort gewesen. Und so oft ich späterhin aus Italien wiederkehrte, ganz durchtränkt von der Schönheit des Südens, wenn ich wieder einmal auf dem »Schänzle« stand und die Blicke von der lachenden Neckarseite mit der fernen Alb in das schwermütige Ammertal wandern ließ, wo, wie einmal eine gefühlvolle Tübingerin zu Friedrich Vischer sagte, »das Herz seinen verlorenen Schmerz wiederfindet«, immer habe ich den Zauber meiner Jugendstadt aufs neue verspürt.
Innerhalb des Tübinger Spießbürgertums stand nun unser Haus wie eine einsame Insel. Schon beim Eintritt hatte unsere Mutter die üblichen Antrittsbesuche unterlassen. Mein Vater war eigens ein paar Wochen früher eingerückt und hatte alles, was die Etikette vorschreibt, erledigt, um ihr diese Prüfung nicht aufzuerlegen, denn er sah voraus, dass sie sich in ihrer freien, der Zeit vorangeeilten Weltanschauung ebenso abgestoßen fühlen würde wie in ihrer aristokratischen Empfindungsweise, die mit der ultraradikalen Gesinnung ganz gut zusammenging. Er wusste auch, dass die Abstoßung gegenseitig gewesen wäre, denn es gab damals in Tübingen nur wenig Frauen, die das Zeug hatten, eine so ungewöhnliche Natur wie meine Mutter zu verstehen. Außerdem war bei ihrem ganz auf die Familie beschränkten Dasein ihre Garderobe nicht im besten Stand, und jede Ausgabe für sich selber ging ihr lebenslang gegen das Gewissen. Außer mit der Witwe Uhland und mit den Töchtern des alten Dichters Karl Mayer, der ihr feuriger Verehrer war, wollte sie überhaupt keinen Frauenumgang. Es lässt sich denken, welchen Anstoß wir Kinder, auf die bisher fast nichts als die Natur und der Geist der Eltern eingewirkt hatten, jetzt in der Tübinger Umwelt erregten. Die »Heidenkinder« nannten sie uns auch dort. Meine Brüder wurden oftmals auf dem Schulwege von anderen Jungen tätlich angegriffen, und es entspann sich dann eine gewaltige Schlägerei; die Heiden standen zusammen und wehrten sich mannhaft, wodurch sie ihren Widersachern allmählich die Lust zu solchen Unternehmungen verleideten. Mir aber, die ich allein und unbeschützt war, erregte es ein schmerzliches Erstaunen, wenn mir mein ungewöhnlicher Rufname in einer hässlichen Verketzerung nachgeschrien wurde, oder wenn gar ein Stein aus dem Hinterhalt geflogen kam. Ich ging daher als Kind nur sehr ungern durch die Straßen und trieb mich lieber in der Nähe unserer damaligen, außerhalb der Stadt gelegenen Wohnung an den Steinlachufern oder auf dem großen Turn- und Schießplatz umher, in einsame Fantasien versponnen. Für alle Zeit bleibt mir ein Sonntag in die Seele geschrieben, an dem ich ganz allein eine Forschungsreise in die Gôgerei unternahm. Man hatte mir mein schönstes weißes Mullkleid mit blauer Gürtelschleife angetan, in das lange offene Haar, auf dessen Goldfarbe die Mutter so stolz war, hatte sie mir ein blauseidenes Band geschlungen, und so zog ich unternehmend meines Weges. Als ich nun von der Langen Gass’ in das seitliche Gewinkel eindrang, flog mir ein kleines Gôgenkind mit Jubelgeschrei entgegen und wollte in meine Arme stürzen, denn es sah mich augenscheinlich in meinem Putz für einen Weihnachtsengel an. Da kam eine ältere Schwester aus dem Haus gerannt und riss entsetzt die Kleine von mir weg. Erst als sie sich hinter einem niederen Zaun geborgen sah, drehte sie sich noch einmal um und sagte, mit dem Ausdruck tiefsten Grauens auf mich weisend: So sehen die Heiden aus!
Читать дальше