Ihr Gesicht hatte, ohne schön zu sein, etwas unruhig Fesselndes bei überstarkem Glanz der Augen, wozu auch das schimmernde Weiße viel beitrug. Aber erst im höheren Alter bekamen ihre Züge die ergreifende Harmonie und großartige Einfachheit, in der sich dann ihr gereiftes Wesen wunderbar ausdrückte. Durch die Schnelligkeit ihres Ganges fiel sie noch als Achtzigerin auf, dabei waren ihre Hände immer ein wenig voraus, wie im steten Begriff zu helfen und zu geben. Alles ging ihr zu langsam, beim Anziehen fuhr sie noch im höchsten Alter immer mit beiden Armen zugleich ins Kleid. All diese äußere Hast war aber frei von Nervosität und Zerfahrenheit. Man konnte sie bei der ungeheuren Raschheit ihres Wesens einem jener hinjagenden Wirbelwinde vergleichen, in deren Innerem eine vollkommene Windstille herrscht. Ihre Gelassenheit war so groß, dass sie ihre unzähligen Briefe immer im Tohuwabohu der Kinderstube schrieb. Auch wenn andere währenddessen mit ihr sprachen, ließ sie sich nicht aus ihrem Gedankengang bringen. Sie brauchte zum Schreiben nur eine Tischecke und eine von den Kindern geliehene Feder. Denn sie besaß gar nichts Eigenes, nicht einmal Schreibzeug. Und die Ströme Wassers, mit denen sie uns täglich abflößte – ein in bürgerlichen Häusern damals noch wenig gepflegter Brauch – waren die einzige Erinnerung an die aristokratische Lebenshaltung ihres Elternhauses, die sie mit in die Ehe herübernahm.
Ihre Unempfindlichkeit gegen Geräusch hatte die Folge, dass sie von mir denselben Gleichmut verlangte, und das war mir eine große Pein. Nicht nur meine Lernaufgaben, sondern auch meine Übersetzungen, die schon in den Druck gingen, musste ich unter ganz ähnlichen Bedingungen an einer Tischecke zuwege bringen, mit einer Feder, deren Alleinbesitz mir nicht zustand. So oft ich mich mit Schreibgerät versorgte, immer verschwand es in der Schultasche der Brüder, die ihrerseits auch nicht besser gestellt waren, denn jegliches Ding ging von Hand zu Hand, und ein jeder suchte immerzu das seinige oder was er dafür hielt; mit Ausnahme des Erstgeborenen, dessen kleine Habe unantastbar war. Wären die Kinder nicht alle gut geartet gewesen, so hätte es beständigen Streit um das Mein und Dein geben müssen; so gab es nur ein beständiges ärgerliches Suchen und Fragen bei großem Zeitverlust. Und ähnlich ging es mit allen anderen beweglichen Gegenständen auch. Am meisten war mein armes Mütterlein selbst geplagt, denn das Objekt, das sich von ihr allzutief verachtet fühlte, verfolgte sie mit unersättlicher Rachgier, sodass sie selbst, die gute Josephine und ich, die wir ihr beistanden, viel Kraft in diesem sieglosen Kriege verschwendeten. Aber eine andere Hausordnung einzuführen, bei der jegliches Ding an seinem Platz geblieben wäre, widerstrebte ihr durchaus.
Ich erinnere mich, dass um jene Zeit in einer Kammer mehrere ganz gewaltige Ballen feinster, handgewebter Leinwand lagen; sie stammten noch von meiner Großmutter Brunnow, die sie jahraus, jahrein für den Brautschatz ihrer Marie hatte weben lassen. Die schönen Tafeldamaste und Bettlinnen wurden ebenso wie das kostbare Kristall vorzugsweise zu Geschenken verwendet, wenn etwa eine der jüngerem Freundinnen sich verlobte, oder zu Vergütungen für geleistete Dienste. Nun war es unter den Geschwistern ganz üblich, dass, wenn einer des Morgens sein Handtuch nicht fand, weil der andere es benützt und in den Winkel geworfen hatte, der Geschädigte, statt um ein neues zu bitten, einfach zur Schere griff, um sich von dem Leinwandballen ein beliebiges Stück abzuschneiden, das er ohne Umstände in Gebrauch nahm. Mein Mütterlein verwehrte es nicht, sie half wohl selber mit, wenn gerade der Schlüssel zum Wäscheschrank verlegt war. Als ich ihr nun eines Tages den Vorschlag machte, mich die abgeschnittenen Stücke einsäumen zu lassen, wie ich es anderwärts gesehen hatte, weil es dann hübscher aussehen und länger halten würde, ließ sie mich ärgerlich an, ich solle mein Herz nicht an solchen Kleinkram hängen, sondern froh sein, dass ich mich geistig beschäftigen dürfe. Zugeben muss ich heute, dass die Handtücher jetzt doch zerrissen wären und dass die geistigen Werte, die sie uns gab, festen Bestand hatten. Aber damals machte es mich oft traurig, dass sich gar kein Austrag zwischen den höheren Aufgaben und der Welt des Irdischen finden ließ. Und wenn ich gar einmal, von einem Besuch bei auswärtigen Freunden heimkommend, eine dort gefundene Ordnung oder Verbesserung im eigenen Hause einführen wollte, so konnte sie ernstlich böse werden und mir drohen, sie würde mich niemals wieder in fremde Häuser gehen lassen. Sie pflegte dann in ihrer drastischen Weise zu klagen, dass ich meine Gaben nur hätte, um dümmer zu sein als das dümmste Frauenzimmer. In solchen Fällen stieß ich sogar auf den Widerstand Josephinens, die in ihrem eigenen Tun noch immer so pünktlich und geordnet war, wie sie es im Brunnowschen Hause gelernt hatte, die aber mit solcher Leidenschaft an ihrer Herrin hing, dass sie nur mit ihren Augen sehen konnte. Ganz mit mir zufrieden wurde mein gutes Mütterlein erst, wenn ich endlich, nach vergeblicher Bemühung, Ordnung zu stiften, entmutigt die Arme sinken ließ. Dann saß man wieder inmitten des häuslichen Durcheinanders, das einen nichts mehr anging, weltentrückt wie die indischen Weisen unter ihrem Urwaldbaum, und sie redete zu mir über das Woher und Wohin, vor allem über das Warum des Lebens. Denn in dieses zuckende, rastlose Flämmchen war ein ganz stiller, einsamer Denker eingeschlossen, der immerzu über die letzten Geheimnisse grübeln musste. Die materialistische Weltauffassung, die damals der Philosophie den Boden wegnahm, befriedigte sie im Innern keineswegs. Das Rätsel des Todes machte ihr lebenslang zu schaffen. Sie prüfte unablässig alles Für und Wider der Gründe für ein Fortleben. Natürlich kam sie niemals zu einem Schluss, und es hing ganz von ihrer augenblicklichen inneren Verfassung ab, ob sie mehr dem Ja oder dem Nein zuneigte. Dass sie glühend das Ja ersehnte, um ihre Liebe noch über das Erdenleben hinaus zu betätigen, war für sie doch kein Grund, ihr Denken nach ihren Wünschen einzustellen. Sie erzählte mir oft, dass sie sich einmal mit einer Bekannten, Frau H. aus Esslingen, das Wort gegeben hatte, welche vor der anderen stürbe, die wolle der Überlebenden ein Zeichen geben. Frau H. starb, und in einer der nächsten Nächte sah meine Mutter sie am Ende eines langen Ganges vorübergehen und ihr zunicken. Sie verstand gleich, was das Nicken bedeute, aber beim Erwachen erwachte auch der Zweifel. Weshalb sollte mir Frau H. erscheinen, sagte sie, und meine Mutter nicht, die mich so unendlich geliebt hat? Denn auch ihre Mutter hatte ihr ein solches Versprechen gegeben, und sie hatte nach ihrem Tode bestimmt auf eine Erscheinung gewartet. Als sie in der Nacht an ihrem Bette plötzlich ein Licht aufblitzen sah, dachte sie: das ist sie! Und lag mit klopfendem Herzen regungslos, um das Licht nicht zu verscheuchen, das immer um sie blieb und bald da, bald dort erschien. Aber am Morgen sah sie einen toten Leuchtkäfer auf dem Gesimse liegen und wartete fortan nicht mehr. Seit dieser Enttäuschung lehnte sie alle Mystik entschieden ab, wiewohl ein mystischer Zug unter dem Grunde ihres Bewusstseins lag. Sie hatte auch wahrsagende Träume, die sich seltsamerweise meist auf Nebensächliches bezogen, wie verlegte Gegenstände, deren Versteck ihr der Traum zeigte. Bisweilen hatten aber diese Träume auch bedeutenderen Inhalt, und einen davon werde ich an einer späteren Stelle erzählen. Es gab übrigens noch einen anderen geheimnisvollen Punkt in ihrem Seelenleben, über den sie sich nur selten und mit größter Zurückhaltung äußerte. Sie sagte mir nämlich wiederholt auf ganz verschiedenen Altersstufen, dass sie ein Dämonium wie das des Sokrates habe, das mitunter sehr nachdrücklich und stets in abmahnender oder missbilligender Weise zu ihr spreche. Mehr erfuhr ich nicht und fragte auch nicht weiter, um eine solche Gabe, die bei ihrem Ungestüm gewiss wohltätig war, nicht durch Beschreien zu stören. Ich weiß aber, dass sie sich auch zu anderen andeutungsweise über die Sache geäußert hat.
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