Der junge Gast teilte für diese Nacht mein Bett. Ich sah mit scheuer Ehrfurcht auf die knospende Jungfräulichkeit, die aus den halbkindlichen Hüllen stieg, und drückte mich nach der Wand, um der Anmutvollen so viel Raum wie möglich zu lassen. Aber zugleich befiel mich ein bohrender Schmerz, denn ich dachte an gewisse garstige Kinder aus dem Hinterhof, die mich, wenn ich auf den großen aufgeschichteten Zimmermannsbalken am Steinlachufer schaukelte, hinterrücks herunterstießen, dass ich auf die Nase fiel, und mir Schimpfworte nachriefen. An diese rohen Geschöpfe fürchtete ich meine angestaunte Lili verlieren zu müssen, denn ich hatte schon die Erfahrung gemacht, dass befreundeten Kindern, wenn es sich ums Spielen handelte, nicht zu trauen war; sie liefen charakterlos der Unterhaltung nach, wo sie sich zeigte. Ich fasste mir ein Herz und teilte Lili mit, in welchem Kriegszustand ich mich mit dem Hinterhofe befand und dass man nicht zugleich mit mir und jenen Freundschaft haben konnte.
Lili antwortete mit einer Bestimmtheit, die mich bei ihrem weichen Wesen überraschte: Du kannst ganz ruhig sein, ich spiele nicht mit den rohen Kindern. Ich spiele überhaupt nicht mehr mit Kindern – und nun lüftete sie vor meinem staunenden Geiste den Zipfel eines Vorhangs, durch den ich in ein neues Wunderland blickte, das Land der Tanzstunden, der langen Kleider, der Verehrer! Ich wusste ja von Herzensangelegenheiten weit mehr als sonst Kinder zu wissen pflegten, da die Verhältnisse der Großen von jeher vor meinen Ohren verhandelt worden waren, aber ich wusste es nur mit dem Verstand, es ging mich in meinem Kinderlande nichts an, sondern lag weltenfern in einer vierten Dimension! Durch Lilis Worte rückte das alles auf einmal ganz nahe heran, dass es mir fast den Atem nahm. Aber es gefiel mir außerordentlich, und ich entschlief unter dem Eindruck, plötzlich einen großen Schritt im Leben vorwärts getan zu haben.
Des anderen Tages wurde Lili, weil bei uns kein Platz war, in einer benachbarten Familie in Pension gegeben. Sie verbrachte aber die meiste Zeit bei uns und gewöhnte sich schnell an unser Hauswesen. Sie war ein ungemein liebliches Stück Natur, dessen Anmut nichts bloß Äußerliches war, sondern aus einer anmutigen Seele floss. Es gab niemand, der an ihrem gefälligen, schmiegsamen Wesen keine Freude gehabt hätte. Eine gewisse Willenlosigkeit und Lässigkeit, die man an ihr bemerkte, taten ihrem Liebreiz keinen Eintrag. Ich konnte mir später Goethes bezaubernde Lili nie anders als unter dem Bilde der meinigen denken. Wenn meine Lili auch keine so glänzende Schönheit und keine so große verwöhnte Dame war, so erinnerte sie doch durch ihre spielerische Schalkheit und natürliche Anziehungskraft an jene strahlendere Gestalt. Die sehr wohlgeformten, obschon etwas großen Züge ihres immer lächelnden Gesichts, die dunklen, entgegenkommenden Augen voll Gutherzigkeit und Schelmerei unter dem reichen aschblonden Haar, ihre mittelgroße, graziöse Gestalt hatten einen Reiz, den manche größere Schönheit entbehrt. Wenn sie mit dem koketten Pelzmützchen auf ihren immer schöngeordneten Haaren in der wippenden Krinoline daherkam, war es unmöglich, ihr nicht gut zu sein.
Die Krinoline! Es sei mir gestattet, auch dieser Freundin und Feindin meiner Kindheit einen kleinen Nachruf zu widmen. Wie wurde sie verhöhnt, verlästert, selbst von denen, die sie trugen, und doch konnte niemand sich ihrer Macht entziehen, denn der herrschende Kleiderschnitt erforderte diese Stütze. Auch Kinder waren genötigt, sie zu tragen. Das Auge hatte sich so an diese Missform gewöhnt, dass, wer aus Charakterstärke ohne Krinoline ging, wie gerupft aussah. Sie bestand gewöhnlich in einem durch Bänder verbundenen Reifgestell aus vielen Stockwerken, das erst unterhalb des schlankbleibenden Beckens leise begann und sich in immer erweiterten Ringen allmählich zu gewaltigem Umfang ausdehnte. Die Vielgeschmähte war jedoch nicht ganz vom Übel. Meine Mutter, sonst so gleichgültig gegen die Mode, hatte eine Vorliebe für diese Tracht, weil das leichte Gestell den Körper im Sommer hübsch kühl hielt, jedem Wind erlaubte ihn zu fächeln und die Schnelligkeit ihrer Bewegungen nicht beeinträchtigte. Wenn man aber damit über Zäune sprang und von Balken fiel, so zerbrachen die Reifen, und es gab alsdann hässlich vorstechende Ecken, was bei mir fast täglich vorkam. Diese auszubessern erforderte eine gewandte Hand und viel Geduld, denn es genügte nicht, die zerbrochenen Reifenden übereinander zu befestigen, man musste der Symmetrie halber das ganze Gestell durchgehend verengen, ein Geschäft, in dem ich große Übung gewann, denn ich betreute nicht nur meine, sondern auch Mamas Krinoline mit wachsamen Augen. Lili zerbrach die ihrige nicht mehr, sie verstand die Kunst – denn es war eine solche –, sich immer schicklich und anmutig darin zu bewegen und sie beim Sitzen elegant mit zwei Fingern niederzuhalten.
Lili wurde nun für einige Zeit mein bewundertes Vorbild und mein stetes Denken. In meinen Olymp konnte ich sie nicht einführen, weil ihr der Sinn für die Dichtkunst gebrach, aber ich kam zu ihr in ihre Welt und fand da genug des Neuen, mich ganz Berauschenden. Lili hatte schon Reisen gemacht, große Städte gesehen, hatte an Champagnerfesten teilgenommen und kannte das Theater, was kein anderes Kind im weiten Umkreis von sich rühmen konnte. Sie schien mir also einem Orden von Eingeweihten anzugehören, zu dem ich andächtig emporblickte. Die Fantasiewelten, in denen ich bis dahin gelebt hatte, versanken vor dem Wunderbaren, was mich berührte, dem Leben. Ich verleugnete alle meine Götter um ihretwillen. Von den Griechen, von der Edda, von dem ganzen ungeheuren Lesestoff, den ich schon verschlungen hatte, sagte ich kein Wort, um ihr nicht auch unheimlich zu werden wie den andern. Ich verschloss das alles in einem Geheimfach meiner Seele, zu dem es ihr nicht einfiel, den Schlüssel zu suchen. Es liegt etwas Rührendes in dem Übergang vom Kinde zum jungen Mädchen, jener reizenden Pagenzeit, die mit scheuer, huldigender Verehrung auf das Geschlecht blickt, dem man selber noch nicht angehört, nun aber bald angehören soll. Lilis Schmuck und Bänder, ihre reifenden Formen, die Wohlgerüche, die sie an sich trug, ihr feines und doch freies Betragen machten mir den tiefsten Eindruck. Verglichen mit der Tübinger Jugend, schien sie mir aus einer andern Menschenrasse zu stammen. Ich liebte sie zärtlichst, das gleiche tat Edgar, und sie hatte ein viel zu gutes Gemüt, um unsere Zuneigung nicht von ganzem Herzen zu erwidern.
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