Schnell wuchs die Siedlung. Auf der einen Seite, dem Dorf zu, bauten sich Hildebrands und Fasolas, später die Witwe des Zoologen Dohrn aus Neapel mit großen Villen an, auf der anderen in der Richtung auf den Fiumetto die verwitwete Frau Angela Böcklin und ihr Schwiegersohn Bruckmann, alle in weiten Abständen mit größeren Gartenanlagen dazwischen. Die neuen zogen ihre Freunde nach, aber noch wachte Edgar als Pfadfinder und erster Ansiedler über die Zulassung, dass keine banausischen oder snobischen Elemente eindrangen, die den auf adlige Freiheit gestellten Geist des kleinen Menschenbundes gefährdet hätten. Er durfte so wählerisch sein, denn es waren alles Klienten von ihm, die ihm nachzogen um auch in der Sommerfrische die Nähe ihres ärztlichen Beraters nicht zu entbehren. Man lebte wie eine große Familie, fand sich am Strand zusammen, besuchte sich gegenseitig in den aus Schilf errichteten, mit Laubwerk gedeckten Badehütten, wo man halbe Tage mit einer Arbeit sitzen konnte. Ein modisches Treiben wie in anderen Seebädern durfte es in Forte nicht geben, größte Einfachheit war Gebot; die Damenwelt begnügte sich mit den von mir erfundenen Meergewändern von griechischem Schnitt, die so schön im Seewind bauschten; am allerschönsten ließen sie sich aus der billigen weißen Nessel herstellen, die, wenn feucht ausgewunden, die schöngebrochenen Falten ergab, wie man sie auf der antiken Plastik sieht. Die meiste Zeit des Tages gehörte dem Bad und dem Lagern auf heißem Sand, wo Gesicht und Glieder bräunten. Die Neulinge mit ihren weißen Gliedmaßen, die an abgezogene Häslein erinnerten, wurden ausgelacht, die weißesten waren immer die Besucher aus Deutschland, aber die Sonne gab auch ihnen schnell den Stempel. Bei hohem Seegang wurden lange Ketten gebildet, die sich bei den Händen hielten, damit das schwächere Geschlecht nicht weggerissen würde, und dann sprangen alle mit der Welle. Die Vorkehrung war nicht unnütz, denn das Meer hatte, wenn der Libeccio längere Zeit blies, unsichtbare, höchst gefährliche Strömungen, denen schwer zu widerstehen war; erlebte ich es doch einmal, dass in nächster Nähe, fast in Greifweite, ein Freund des Hauses, der ein geübter Schwimmer war, ohne dass wir es bemerkten, mit verzweifelter Anstrengung um sein Leben rang und noch lange danach blaurot im Gesicht kaum den Atem wiederfinden konnte. Auch wurde bei starkem Sturm der Grund völlig umgewühlt, es entstanden lockere Sandablagerungen, die unter dem Fuße wichen, und daneben tiefe Schachte, die den unerfahrenen Schwimmer mit einem Wirbel einschluckten. So kam es, dass jeden Sommer das Meer sich die eine oder die andere Beute unter den Badenden einfing; es traf nicht die Ansiedler, die mit allen Tücken vertraut waren, nur die schwer zu warnenden Zugereisten. Auf Sankt Anna, so hieß es im Volksmund, habe das Meer jährlich das Recht an ein Opfer. Rettungsanstalten gab es damals noch keine, die Badewärter, die sich mit der Zeit am Strande einfanden, konnten großenteils selber nicht schwimmen (ein Missstand, den der Faschismus abgeschafft hat), und ein Boot vermochte sich in der tobenden Brandung nicht zu halten. Drei bis neun Tage brauchte jedes Mal der Libeccio, bis er sich ausgetobt hatte. Danach schwamm es sich selig in der wiederberuhigten, sonnespiegelnden Flut; glashelle, blaugeränderte Medusen, schön zu sehen wie Blumen des Meeres, schwammen mit; nur ihre Berührung, die ziemlich stark brannte, musste man vermeiden. Aber dasselbe Glücksmeer, das uns Menschenkinder beseligte, lockte die armen betörten Zitronenfalter und andere Tagesschmetterlinge in den Untergang; sie konnten der gleißenden Fläche nicht widerstehen, flatterten hinaus und immer weiter, bis sie ermüdet sich nach Rast umschauten. Oft habe ich ihnen draußen meinen Badehut als Meerschiff angeboten, um sie heil zurückzubringen, aber sie wollten nicht, versuchten es lieber mit der Welle, fuhren erschrocken wieder auf, um nach wenigen Flügelschlägen abermals niederzugehen, wobei sie spurlos verschwanden. – Unterdessen plätscherte unser Mütterlein wonnevoll in dem seichten Uferwasser, das so durchwärmt war, dass Edgar es das Kinderbad nannte; für sie war es der Jungbrunnen, der sie durch das ganze Jahr gesund und frisch erhielt. Dass ihr Sohn ihr die Anfangsgründe des Griechischen beibrachte und dass wir ihr danach zusammen die »Altgriechischen Unterrichtsbriefe zum Selbststudium« von Koch zum Geburtstag verehrten, an denen sie sich auch allein weiterhelfen konnte, das vollendete ihr Glück.
Die körperliche Seite des Hellenentums verwirklichte Vanzetti, der Herr des Naturlebens. Er sammelte die Jugend um sich, stellte Turngeräte vor seinem Hause auf und begeisterte sie für die damals noch wenig gepflegte Gymnastik. Wie er selber stolz auf seinen Wuchs eines antiken Ringers war und nie anders als halbnackt und tiefgebräunt gesehen wurde, so zog er in Forte ein junges Geschlecht heran, das bei Wettlauf, Ringkampf, Rudern, Ballschlagen und Bocciaspielen seinem Meister auch äußerlich ähnlich wurde und mit dem er allsommerlich seine Olympiade feierte, ohne wohl je von Olympia gewusst zu haben. Heute würde er mit seinen Erfahrungssätzen von der Physiologie der Bewegung und dem Einfluss der gymnastischen Wettspiele auf die Charakterbildung nur offene Türen einrennen; damals waren sie überraschend, und es bedrückte ihn einigermaßen, dass er sich viel zu flüchtigen Geistes wusste um sie schriftlich festlegen zu können. Auch die Sonnenbäder, die er am Strand für seine mitgebrachte Klientel einführte, bildeten lange Zeit eine bestaunte oder belächelte Neuheit. Für ihn bestand der Beruf des Arztes weniger im Heilen als im Verhüten von Krankheiten, und lieber als Leistungen am Krankenbett mochte er sich von den Klienten die Zeit vergüten lassen, wo er sie gesund erhielt. So legte er auch den größten Wert darauf, überall, wo er gerufen wurde, selber in strahlender Verfassung zu erscheinen, weil es ihm feststand, dass der Arzt dem Patienten mit dem Beispiel der Gesundheit vorangehen müsse. Er sagte von sich, dass er nicht mit dem Kopf denke, sondern mit den Poren der Haut, und in der Tat besaß er in seinen aufs äußerste verfeinerten Sinnen Wahrnehmungsorgane, die ihm Erkenntnisse aus der Natur zutrugen, ohne dass er sich mit ihrer geistigen Verarbeitung quälte, weil sie kaum über die Sphäre des Körperlichen hinausdrangen. Die Natur hatte diesen Menschen wie kaum einen anderen zum Glücklichsein ausgestattet. Wenn er frühmorgens über die Felder ging, so schlürfte er Wonnen ein; alle blühenden Büsche, die harzduftenden Bäume, die aromatischen Kräuter trugen ihm ihre Wohlgerüche zu und er schwelgte noch im Beschreiben. In dem Streichen der Morgenluft über seinen nackten braunen Oberkörper wollte er schmeichelnde Nymphenfinger erkennen; so war ihm in der Tat jede Pore seiner Haut eine Tür, um das Glück einzulassen. Ebenso glücklich waren seine Augen, die jede Schönheit der Landschaft bis herab zu der feinsten Schattierung des Grüns der Felder wahrnahmen. Gute Musik, gleichviel ob ernsten oder heiteren Charakters, versetzte ihn in einen Glückstaumel, ohne sein Gemüt zu erschüttern; widrige Geräusche dagegen, wie sie den feinnervigen Edgar zur Verzweiflung brachten, erreichten ihn gar nicht. Der ganze Mensch war die notwendige Skala von Komplimentärfarben zu der Farbenskala seines schwierigen Freundes.
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