Es sinkt der Tag und wir sind unerlöst.
Glückseliger Strand, Gestade der Entrückten,
Schien wie der Ort, wo frei von irdischer Schwere
Die Helden und die Liebenden sich finden,
Wo fern der Zeit Achill und Helena
Im Schein versäumten Erdenglücks sich sonnen.
Ihr Sommer, deren Stunden leicht wie Träume
Der Himmlischen um unsere Stirn zerronnen!
In immer gleicher Fülle lebten wir
Unalternd, unsre Leiber waren Dinge
Aus Licht und Luft, die Sonne schien hindurch.
O Sonnenglühtrank, den ich heiß geschlürft
In jenen Sommern, die kein Ende hatten,
Du glühst noch jetzt in meinen Adern nach
Wie göttlich unverlöschbares Jugendfeuer.
(Aus »Jenseits des Blutstroms«, 1915)
Es war kein Dichtermärchen, in Forte dei Marmi alterte man nicht. Die langen, glühenden Sommer brannten alle kranken und wehen Stellen aus und gaben eine immer heile und heitere Jugend. Auch unsere Mutter, die ja nun schon in die Jahre trat, die bei den Alltagsmenschen Greisenalter heißen, blieb in ihrer geistigen und körperlichen Beweglichkeit unverändert die gleiche. Die Widerstandskraft, die sie den schweren ihrer noch wartenden Schicksalsschlägen entgegenzusetzen fand, und das Lächeln, das trotz allem bis über die Schwelle des Todes mit ihr ging, kann sie nur dort geschöpft haben. Und auch ich selber hätte nirgends als am Strand von Forte soviel Schönheit und Wärme in mir aufspeichern können, um in den kommenden dunklen Jahren nicht ganz am Leben zu verzweifeln.
Das kleine Haus, wie es jetzt dastand und mit unwahrscheinlich beseelten Augen aufs Meer hinaussah, glich einem lebendigen Wesen und nahm gleichsam die Miene seiner Besitzer an. Ganz aus schwerem Bruchstein errichtet, den aber festlich grüne Läden leicht machten, durch die angenehmen Maße und weil es ringsum frei stand, für das Auge viel größer als es wirklich war, hatte es einen ganz persönlichen Ausdruck von heiterem Ernst, wozu noch die mehr breiten als hohen Fenster, das mächtige, in Länge und Quere geteilte Portal und die von Hildebrand gestiftete Marmorbank an der Außenwand das ihre beitrugen. Diese Besonderheiten waren nicht ohne die wunderlichsten Reibungen und Zwischenfälle zustande gekommen. Ich hatte meinem Bruder nur die Berechnung der Räume überlassen; für das äußere Gesicht zog ich Hildebrand zu Rat, und dieser entwarf mit Hilfe seines Schwiegersohnes Sattler die lebensvolle, von jeglicher Schablone abweichende Stirnseite. Als die Mauern aus dem Boden zu steigen begannen, ließ ich mich für den Frühwinter allein in der Nähe des Neubaus nieder, um die genaue Ausführung des Hildebrand-Sattlerschen Entwurfs zu überwachen. Denn der Werkführer, ein einfacher aber sehr geschickter Maurermeister, hatte es anders vor: er wollte kurzweg die hohen, schmalen Tür- und Fensteröffnungen, wie er sie bei Edgar und Vanzetti gebaut hatte, wiederholen, hatte auch bereits begonnen die Bogen viel zu schmal zu spannen und fuhr damit trotz meines Einspruchs fort, indem er, so oft ich mit ihm sprechen kam, sich taub stellte und aus der Dachhöhe, wo er hantierte, einen Hagel kleiner Steinchen herunterfallen ließ, um mich zu vertreiben. Da blieb mir nichts übrig, als die augenblickliche Einstellung des Baus zu befehlen. Außer sich lief der Mann zu dem Ingenieur, der dem Namen nach die Oberaufsicht führte, aber nie den Fuß auf die Baustätte setzte, und klagte ihm, ich hätte mitten unter der Arbeit Veränderungen angeordnet, die dem Vertrag widersprächen. Meine Erklärung, dass der Hildebrandsche Entwurf nichts enthalte, was gegen den Vertrag verstoße, konnte ich aber nicht beweisen, weil der Werkführer plötzlich versicherte, die Zeichnung verloren zu haben; ich konnte nur darauf bestehen, dass nicht weitergebaut würde, bis das Blatt wieder zur Stelle sei. Der Ingenieur schrieb nun an Edgar, dass ich vertragbrüchig geworden sei und dass die Preisvereinbarungen hinfällig würden, wenn ich nicht von meinen unberechtigten Änderungen abstünde. Da mein rascher Bruder der falschen Darstellung glaubte und unbedingt verlangte, ich müsse mich fügen, drohte der Streitfall sich in die Familie hinein zu erweitern. Aber der Allvermittler Vanzetti übernahm es mit seiner großen Macht über die Gemüter der einfachen Leute, den Maurermeister zur Einsicht zu bringen: die verlorene Zeichnung war plötzlich wieder da und wurde haargenau ausgeführt, der Ingenieur kehrte in seinen olympischen Gleichmut zurück, und der Schuldige übernahm den durch seinen Eigensinn verursachten Mehraufwand. Nur das erregbare Bruderherz grollte mir noch eine Weile weiter, wie er in unseren Kindertagen getan hatte, wenn ich einmal anders wollte als er oder auf irgendeinem Punkt seinen Geschmack nicht teilte. Er hatte sich mein Häuschen als ein verkleinertes Abbild des seinigen gedacht: dass ich im Stil gänzlich von ihm abwich, schnitt ihm in die Seele und ließ ihn das Ungewohnte von vornherein als Überspanntheit verurteilen. Als aber der Bau in seiner Eigenart dastand und die Hildebrandsche Absicht verwirklichte, auf kleinstem Raum den Eindruck des Mächtigen zu geben, da bekehrte er sich nur zu sehr; das große Tor mit den vier Flügeln, das, wenn die unteren geschlossen und die oberen offen waren, den davorliegenden Meereshorizont mit den ziehenden Segeln wie in einem schön geschwungenen Rahmen einschloss, und das ausdrucksvolle, von einem roten Ziegeldächlein wie von einer Braue überwölbte breite Fenster taten es ihm dermaßen an, dass er am liebsten sein eigenes Haus im gleichen Stil umgebaut hätte. Er ruhte auch nicht, bis er in dem wiedererwachten Wetteifer unserer Frühzeit bei einem Anbau, den er vornahm, noch Gelegenheit fand, die empfangenen Anregungen zu verwerten. Eine Kindlichkeit dieser großen Natur, die für mich etwas Rührendes hatte. – Das gäbe einen hübschen Novellenstoff, meinte wieder einmal Freund Hildebrand mit Lächeln, als ich ihm erzählte, welche Nöte es mich gekostet hatte, seinen Entwurf durchzusetzen. Heute, wo das Häuschen in einer dichten Villenreihe wie ein winziger Zwerg zwischen übermächtigen Nachbarn eingekeilt steht und nur noch durch eine außergewöhnliche gärtnerische Umrahmung den Charakter seiner Einmaligkeit bewahrt, kann man sich nicht mehr vorstellen, wie zwingend einmal das kleine Ding, noch frei in seinen eigenen Maßen stehend, mit keinem anderen Hintergrund als der vielgipfeligen Pineta und der edelgeformtesten aller Alpenketten sich dem Stilgefühl auferlegte. – Diese Alpen mit ihren aufgerissenen weißen Flanken, vielgestaltig wie die Dolomiten, aber noch nicht totes Gestein wie diese, gewaltig ohne erdrückend groß zu sein, weil sie fast übergangslos aus Meereshöhe aufsteigen, und mitten inne als Herzfleck der rote Erdbruch der Ceragiola, der damals noch nicht erschöpft und in Grau verblasst war wie heute, sondern tiefrot aus dem Grün der Vorberge flammte, gibt es irgendwo schönere? Aber dass sie in den glücklichen Zeiten, von denen ich erzähle, auch ein Bollwerk gegen die Tramontana bildeten und damit dem Strand ein paradiesisches Winterklima schenkten, davon weiß nur der kleine Rest der Ureinwohner noch, die wir bei unserer Siedlung vorfanden. Heute möchte ich niemand raten, den Winter, wie ich es des öfteren tat, im ungeheizten Haus zu verleben, den ganzen Dezember hindurch und noch im Januar zu baden und im Sommerkleid am Strande zu gehen. Was auch die klimatischen Vorgänge verändert haben mag, die Tatsache wiederholt sich neuerdings jeden Winter, dass die Apuanischen Alpen sich bis herab zu ihrem Fuß mit Schnee bedecken, der seine Kälte auf den einst so milden Strand herunterstrahlt.
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