Ich überließ die Fortsetzung des Briefwechsels meiner Mutter und zweifle nicht, dass ihre spendende Schreibehand auch über diese Kluft eine Brücke geschlagen haben wird.
Fast noch ferner vom kleinen Sinne der Durchschnittsfrau erscheint sie im Verhältnis zu einer anderen Vorgängerin. Kurz vor seiner Verheiratung war mein Vater mit dem schönsten Mädchen von Stuttgart heimlich verlobt gewesen, aber auch in diesem Falle hatte die Familie das Band gelöst mit dem Hinweis, dass er nicht imstande wäre, die Ansprüche der schönen Verwöhnten, um die wohlhabende Männer warben, zu befriedigen. Meine Mutter aber erhielt an seiner Stelle durch Briefwechsel die freundschaftliche Beziehung zu der nach auswärts Verheirateten aufrecht. Da geschah es nach Jahrzehnten, dass Paul Heyse an einem Kurort die einst gefeierte Schönheit kennenlernte und an meinen Vater schrieb, er habe ein »verblühtes Schätzchen« von ihm gesehen. Dieses nach Männerart hingesprochene Wort kränkte meine Mutter in das Herz der anderen hinein, deren Jugendschönheit in ihres Dichters Liedern fortlebte, und sie nahm mir unzählige Male das Versprechen ab, wenn einmal der Heyse-Kurz-Briefwechsel gedruckt würde, dafür zu sorgen, dass die Stelle wegbliebe. 1Nach meines Vaters Tod wurde es ein Herzenswunsch der beiden Frauen, dass Edgar die gleichnamige Tochter der ehemaligen Verlobten des Vaters heirate, und gewiss wäre dieser Bund ein glücklicher gewesen; aber bevor der junge Arzt eine gesicherte Stellung hatte, trat wieder jener »Andere« dazwischen, der immer die Braut wegholen kommt, und führte das anziehende Mädchen heim. Das war ein Schlag für meine Mutter, aber ganz geschlagen gab sie sich nicht: als Edgar ein kleines Töchterchen hatte, setzte sie es der Wahl ihrer Schwiegertochter entgegen durch, dass es den Namen der Jugendgeliebten ihres Dichters erhielt, der sich in deren Tochter wiederholte, sodass im Klang zweier Silben ein unerfülltes Herzensgeschick von zwei Generationen mit der Familie verbunden blieb. – Jede Frau, der ich von dieser Haltung meiner Mutter erzählte, hatte darauf nur die eine Antwort: Dazu wäre keine andere fähig gewesen.
Die Briefe meiner Mutter! Es sei einmal an dieser Stelle davon die Rede. Unermüdlich spann sie damit ein Netz von Liebe über die darbende Welt. Jeder war ein Geschenk an den Empfänger, wie das Briefe immer sein müssten; wo sie eine einsame verkümmerte Seele wusste, dahin flog ein solches Geschenk; seitdem sie keinen Haushalt mehr zu führen und keine Kinder zu unterrichten hatte, blieb ihr ja Zeit in Menge. Es wäre falsch, diese Briefe geistvoll zu nennen, sie waren wogender Seelenstoff mit jeweils einem Blitz höheren Erkennens dazwischen. Mit klarster Schrift in engen Zeilen geschrieben, um möglichst viel auf eine Seite zu bringen, meist mit keinem anderen Datum als dem Wochentag, auf dem schlechtesten, billigsten Papier, das auf herumziehenden Karren zu finden war – nicht die Sparsamkeit allein, auch Rücksicht auf die armen Händler bestimmte die Wahl –, so gingen diese armgekleideten Apostel mit den ewigen Botschaften hinaus. Aber während die Damen der großen Welt ihre Nichtigkeiten mit der großen steilen Modehandschrift auf brettersteifes, mit Namenszug verziertes Leinen oder Bütten schrieben, dessen Gewicht nicht selten den Empfänger Strafgebühr kostete, zerfielen diese kostbaren Blätter oft schon nach einigen Jahren wegen Brüchigkeit des Papiers. Für ihre Kinder freilich waren diese Mutterbriefe auch verhängnisvoll, denn die Schreiberin tat sich keinen Zwang an, sondern schüttete alles aus, was sie bedrängte und was ihr durch den Sinn ging; man musste lernen sie richtig zu lesen. Wie viele bange Stunden haben mir diese geflügelten Boten in die Ferne gebracht, während die Absenderin die Lasten, die sie darin abgelegt hatte, bei ihrer großen Beweglichkeit oft schon selber gar nicht mehr spürte. Der einzige überlebende ihrer Söhne, Erwin, hat mit Bedauern alle diese Briefe vernichtet, weil sie ein falsches Bild von der Wirklichkeit gaben und mit allzu fantastischen Einfällen, nur den Eingeweihten auslegbar, durchkreuzt waren. Ich konnte mich zu dieser Opferung nicht entschließen. Aber ein Vers an sie, von meiner Hand geschrieben, den ich unlängst unter alten Papieren fand, rief mir diese Not lebhaft in Erinnerung:
Schütte dein Herz aus,
Aber verschütt’ es nicht,
Und was die Sorge spricht
Leg es als Scherz aus,
Dass aus den Blättern,
Wenn sie ein Ferner liest,
Mit deinen Lettern
Nur Freude fließt.
Offenbar war es eines der jährlichen Geburtstagsgedichtchen, womit ich irgendein kleines Geschenk zu begleiten pflegte, und in diesem Fall kann die Gabe nur in anständigem Briefpapier bestanden haben.
Als ich fünfzehn Jahre nach ihrem Tode zum ersten Mal wagte, ein Bündel ihrer Briefe zu öffnen, da flog die Tür auf und sie mit einem Jubelschrei an meinen Hals, und ich verstand wieder alle die Macht, die sie auf ihre Umgebung geübt hatte. Und zugleich füllte sich der Raum mit lauter vertrauten Gestalten, die mit dazu gehörten und eine stärkere Gegenwart besaßen als alle jetzt Lebenden. Da war es eine Pein, zu keinem von ihnen sprechen zu können, denn ach, sie wussten nur noch von ihren Tagen und nichts mehr von den meinigen.
1 Dass in einem anderen dieser Briefe Heyse irrtümlicherweise ein von Alfred schlecht bestandenes Examen dem aus jeder Prüfung mit Glanz hervorgegangenen Edgar zuschrieb, war ihr ein zweiter Stachel, für dessen Beseitigung ich zu sorgen versprach. Da es mir nicht vergönnt ist, ihre Wünsche zu erfüllen, lege ich zur Versöhnung ihrer Manen die Berichtigung an dieser Stelle nieder. <<<
Dreizehntes Kapitel – Wir begründen ein Weltbad
Mein Haus, mein Haus am Meer.
Auch heute türmen
Die Marmoralpen schimmernde Pastelle
In deinem Rücken auf und draußen breitet
Sich tiefblau, endlos die Tyrrhenerwelle.
Du träumst den Segeln nach die ferne streichen,
Und an den Zauberinseln hängt dein Blick,
Die mein Erinnern Tag und Nacht umflügelt.
Es kann der Wunsch, wie glühend er sie male,
Die Schönheit, die lebendige, nicht erreichen.
Dort über Serravezza flammt im Stein
Durch all das Weiß die offne rote Wunde,
Und Wälder legen kühlend sich hinein,
Doch in der Berge weißen Flanken schläft
Die ungeborne Welt der Kunst, und oftmals
Am Abend rottet wie von innrer Glut
Sich das Gestein, als rief’ es ungeduldig.
Читать дальше