Diese Geschichte schrieb ich jedoch nicht in der Arnostadt, im eigenen Villino, das mir längst keine Sicherheit gegen häusliche Störungen mehr bot, sondern in Stuttgart, wo ich mich vorübergehend in einem stillen luftigen Zimmer an der Hölderlinstraße eigens zu diesem Zweck niedergelassen hatte. Es waren köstliche Frühlingstage; der lange nicht gesehene deutsche Lenz mit dem kindlich zarten Grün der Laubbäume und den jungen Fransen der Nadelhölzer setzte mich in einen Rausch der Heimatliebe, und diese Heimat im Geist mit meiner zweiten, der toskanischen, zu verbinden, war mir eine tiefe innere Befriedigung. Das Schwabenland feierte gerade ein dynastisches Fest; zu diesem Anlass dachte ich mit den »Schwaben in Florenz«, unter denen der gepriesenste Vorfahr des Herrschers obenan stand, dem Lande ein Gastgeschenk von besonderer Art zu bringen, und bot die Erzählung einer großen, in Stuttgart erscheinenden illustrierten Zeitschrift an. Aber die Wege der Schriftleitungen sind unergründlich; ich erhielt das Manuskript, das gerade das zeitgemäßeste war, was sich denken ließ, mit der trockenen Bemerkung zurück, dass der Gegenstand »zu weit abliege, um Interesse zu erwecken«. Nach diesem glanzvollen Fehlschlag versuchte ich es kein zweitesmal, die »Humanisten«, die jetzt ihren richtigen Titel bekamen, in einer Zeitschrift unterzubringen, sondern nahm sie mit mir nach Florenz, wo ich mich nunmehr unabgeschreckt an die letzte der vorgesetzten Aufgaben, den »Heiligen Sebastian«, wagte.
Nach dem Erscheinen der »Florentiner Novellen« wies mein Landsmann Ludwig Laistner in der »Augsburger Allgemeinen Zeitung« mit viel Gelehrsamkeit und Scharfsinn die Herkunft des Motivs dieser Novelle (Liebe zu einem Bild) aus dem Pantschatantra – den ich nicht kannte – nach und verfolgte seine Wanderungen durch die Jahrtausende bis zu seiner Wiedergeburt in meinem »Heiligen Sebastian«. So gelehrt war es in der Wirklichkeit nicht zugegangen; der Stoff war aus dem Leben, und auf dem kürzesten Weg, aus meinem eigenen, geholt. In meinen frühsten florentinischen Jahren, vor der Bekanntschaft mit Althofen, als ich mit dem Wunschbild der großen Griechenkunst im Herzen mich von dem niederländischen Realismus des Quattrocento angefremdet fühlte, war ich bei einsamen Streifen durch die Kunsttempel auf den heiligen Sebastian des Sodoma gestoßen und stand entzückt vor der lange gesuchten Wundererscheinung vereinigter Leibes- und Seelenschönheit. Lange Zeit galten meine Gänge in den Pitti einzig ihm. Der Adel des hinsinkenden, nur von den Stricken aufrecht gehaltenen Körpers, die Schönheit des Gesichts, die mehr einem Engel als einem Menschen zu gehören schien, und der feuchte, nach oben gerichtete Blick, das waren Dinge, die mich nicht losließen, die ich aber ganz still für mich behielt, damit mir nicht irgendein Krittler die Freude an den. Bild verdürbe. Ich konnte mir also leicht eine fromme junge Florentinerin aus den großen Tagen der Kunst vorstellen, die sich in das ebenso schöne Sebastiansbildnis eines von mir erfundenen Malers verliebt. Vertieft wurde diese Vorstellung durch ein liebenswürdiges kleines Erlebnis mit einer jungen, bildhübschen Pflegenonne von den englischen Blue sisters, mit der ich einmal gemeinsam bei einer Frischoperierten meines Bruders, die wir, weil nahe befreundet, als Gast im Hause pflegten, wachte. Die Liebliche erzählte mir in der stillen Nacht unter ihrem Nonnenschleier so recht zutraulich wie ein Backfisch dem andern von ihrer tiefen schwärmerischen Liebe zum heiligen Michael, dem herrlichsten der Erzengel, den sie sich zum Schutzpatron erbeten hatte: He is so very much like a man, you know. Die eingeflochtenen Sonette, die ursprünglich Terzinen waren, hatten gleichfalls zu meinem eigenen Gebrauch gedient, bis ich der Sitte jenes künstlerischen Zeitalters auf die Spur kam, neugeschaffene bewunderte Werke durch angeheftete anonyme Sonette zu feiern. Ich goss also die Terzinen in eine andere Form und gab ihnen die weibliche Hauptperson der Geschichte zur Urheberin. Auch die Bestürzung und ausweichende Scham des Künstlers vor seinem ersten starken Erfolg und vor dem Lob der mediceischen Tafelrunde hatte so etwas wie ein Gleichnis im eigenen damaligen Erleben, da ich sowohl in Deutschland wie in dem Freundeskreis von San Francesco, der an Erlesenheit kaum hinter dem mediceischen zurückstand, auf eine mich überwältigende Weise wegen meiner unterdessen erschienenen Gedichte gefeiert wurde. Und noch eine Parallele hatte ich in die Dichtung gebracht: ich litt von klein auf an einer gegenstandslosen, mir vielleicht schon angeborenen aber durch die Erziehung gesteigerten Gewissensangst: der Furcht, irgendeinmal ahnungslos einen Schritt zu tun, der für einen andern tödliche Folgen haben könnte, oder dass ich Zeugin eines Verbrechens werden müsste, ohne den Mut oder die Möglichkeit, dazwischen zu springen; Ängste, die mir oft genug die Nacht durch furchtbare Träume verdüsterten. Von dieser Zwangsvorstellung entlastete ich mich einigermaßen, indem ich sie in dem unglücklichen Maler vergegenständlichte, der ungewollt seinen schönen, ihm zum Rivalen gewordenen Bruder an die Mörder verrät und unwissentlich der Wegschaffung des Opfers beiwohnt. – Die Worte des großen Lorenzo an den Gramgebeugten: »Vergiss das Vergängliche und freue dich, dass du am Dauernden mitschaffen darfst«, waren die Wiedergabe einer Mahnung, die einmal in dunkler Stunde der immer vorwärts deutende Hildebrand an mich selber gerichtet hatte. So strömte bald da bald dort ein Stück gelebten Lebens mit hinein und umgekehrt erweiterten diese Gebilde durch ihre innere Nähe mir den eigenen Lebensraum.
Den »Florentiner Novellen« war auch äußerlich ein schneller und durchschlagender Erfolg beschieden. Ein unternehmender junger Verleger, der die alte Firma Göschen gekauft und nach Stuttgart verlegt hatte, brachte das Buch heraus und war begeistert von dem glückhaften Griff: am liebsten hätte er gleich einen zweiten Band »Florentiner Novellen« gedruckt. Der Empfang bei der Kritik war der günstigste, man ging sogar von der damals noch weitverbreiteten Gewohnheit ab, jede Besprechung eines Buches aus Frauenfeder mit Erörterung der Frage von dem weiblichen Hirngewicht einzuleiten und günstigen Falls eine ehrenvolle Ausnahme festzustellen. Ich war ja schon im Vorjahr bei der Herausgabe meiner Gedichte mit offenem Visier erschienen, statt mein Geschlecht nach damals noch geübtem Brauch hinter ein männliches Pseudonym zu verstecken, ein Brauch, aus dem bei der verschiedenen Einstellung der Geschlechter sich leicht etwas Hermaphroditisches ergibt, denn der Mann sagt ich, wo die Frau du sagt. Und wie hätte ich den Namen meines Vaters verleugnen können, durch den ich mich zu der strengsten Forderung an mich selbst verpflichtet fühlte.
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