Aber die Hilfe kam; sie kam aus meinem eigenen Inneren. Schon bei den biografischen Entwürfen waren mir ungerufen novellistische Eingebungen durch den Sinn gegangen, die zurückgedrängt werden mussten. Jetzt meldeten sie sich stärker; aus dem Trümmerhaufen drang es wie leises Glockenläuten, aber es waren keine Trauerglocken mehr: die »Florentiner Novellen« brachen ins Leben.
Hier zeigte sich’s nun sogleich, dass erfundene Vorgänge und Gestalten meine Feder ganz anders beschwingten als das Weitertasten im Erforschten, dem ich nichts Eigenes hinzubringen durfte; geschichtliche und kulturgeschichtliche Gegebenheiten waren jetzt nur das hochwertige Plasma, um Menschengeschick daraus zu formen; Zeit und Ort gaben einen Rahmen, der wirkungsvoller nicht zu denken war. Und die Modelle samt ihrer Redeweise und ihren Gesten fand ich unter den lebenden Florentinern, die mir jeweils Züge ihres Wesens lassen mussten um die Züge ihrer Vorfahren zu bilden, denn es war das Reizvolle dieser alten, nicht abgerissenen Kultur, dass die menschlichen Typen sich erhalten hatten.
Die Geschichte der lebendig bestatteten und wieder auferstandenen Ginevra degli Amieri, die des Nachts aus dem Dom, aus der Umgebung der mitbeigesetzten Pestleichen flieht und zuerst im Haus ihres Vaters als Gespenst ein tödliches Entsetzen erregt, dann bei dem ungeliebten Gatten die gleiche Abweisung erfährt, bis sie im angstvollen Umherirren ihrem Frühgeliebten, der gleichfalls trostlos umherirrt, ihren Tod bejammernd, in die Arme läuft, und wie nun ein weiser Magistrat wider alles Erwarten die Sache zum guten Ende führt, indem er die vollzogene Todesurkunde für gültig und die Ehe durch den Tod für gelöst erklärt, wonach die Liebenden zum Altar schreiten können, diese alte, in Florenz nie vergessene Überlieferung war mir zuerst durch ein Puppenspiel bekannt geworden, das bei der Derbheit der Aufführung und der Unwahrscheinlichkeit der Handlung sowie auch durch das lebhafte Mitspielen der einfachen Zuschauer eine komische Färbung erhielt. Seit ich aber aus den Annalen von Florenz den wütenden Hass zwischen »Popolanen« und »Granden«, den aufstrebenden Zünften und dem kriegerischen Feudaladel, kannte, verstand ich erst den historischen Hintergrund der Sage und dass der salomonische Spruch des Rates, wodurch ein »Großer« seiner Gattin verlustig ging und der bürgerliche Bewerber sie als Verstorbene davontrug, nichts war als ein freilich groteskes Beispiel der vielen parteilichen Entscheidungen, wodurch damals die stolze städtische Ritterschaft rechtlos und wehrlos gemacht wurde. Die wiederholten, blutig niedergeworfenen Aufstände des Adels gaben Gelegenheit, die Geschicke der Liebenden mit den tragischen Geschicken anderer historischer Häuser zu verflechten, wodurch sich ein reiches Zeitbild gestalten ließ. In den damals noch stehenden Resten der Altstadt, dem kaum betretbaren, weil zum Diebsviertel herabgesunkenen Zentro, war auch der Schauplatz der Vorgänge noch erhalten: der alte trutzige Palast der Amieri, um den der Kampf sich verdichtete, das Kirchlein des heiligen Andreas, von mir zum Treffpunkt der Liebenden gemacht, die Loggia degli Agolanti, wo die zwei alten Ritter die unglückliche Verlobung ihrer Kinder anzetteln. Das enge Gäßlein, durch das die erwachte Scheintote den Heimweg gesucht haben soll, heißt noch immer die Via della Morte. Eine weitere Anregung gab die aus dem Dekamerone bekannte Pestzeit, in der die Erzählung spielt, für mich durch die jüngst empfangenen eigenen Eindrücke von einer Seuchenpanik noch mehr verlebendigt, aber auch schon vor Jahren beim ersten Besuch der Uffizien den schaudernden Sinnen eingeprägt durch ein Gemengsel wächserner Leiber, das als eine Art trionfo della morte unter Glas gezeigt wurde. So entstand die »Vermählung der Toten« als erstes Stück der »Florentiner Novellen«. Ich sandte sie an »Kröners« Gartenlaube, wo sie auch bald danach gedruckt erschien. Die Arbeit hatte eingehende Studien über die Pestzeit nötig gemacht, und diese zogen dann eine zweite Novelle über das gleiche Thema »Anno Pestis« nach sich; nur dass diesmal statt des späten Mittelalters die niedergehende Renaissance zum zeitlichen Rahmen gewählt war. Eine geschichtliche Überlieferung lag in diesem Falle nicht vor, außer dem neuen Ausbruch der Seuche. Die Fabel von der betrogenen Frau, die an dem Zerstörer ihres Lebens Rache nimmt, indem sie ihm durch eine Liebesnacht die Pest, von der sie schon ergriffen ist, überträgt, war eigene Erfindung; sie war zum Schlussstein des Ganzen bestimmt und sollte als Gegensatz gegen die noch patriarchalisch gebundenen Zustände in der ersten Erzählung die orgastische Stimmung der Lebensgenießer angesichts des Todes und die wilde Auflösung der sittlichen Begriffe, die auf den sacco di Roma gefolgt war, zum Ausdruck bringen. Zwei Novellen aus den Blütetagen der florentinischen Renaissance hatten zwischen dem Anfangsstück und dem Schlussstück, Aufgang und Niedergang, die Brücke zu spannen. »Anno Pestis« fand keinen so bereiten Willkomm wie die »Vermählung«; man war damals noch äußerst ängstlich auf erotischem Gebiet, es gelang mir aber doch, die kleine Novelle in »Nord und Süd«, der fortschrittlichsten unter den damaligen Zeitschriften großen Stils, unterzubringen. Heyse tadelte die Furchtbarkeit des Stoffes; das konnte aber nur für den Gegenstand, nicht für die Behandlung gelten. Auch vergaß er, dass die zeitgenössischen Novellen des Bandello die Zeit mit ebensolchen Weltuntergangsfarben malen. – Freund Fasola machte später eine vorzügliche Übersetzung von »Anno Pestis«, streng im Stil der Zeit und in dem des Originals, die einzige wahrhaft gelungene Übersetzung aus einem meiner Werke.
Danach ging ich an die »Humanisten«, einen Gegenstand, den ich längst schon liebend und weiterforschend mit mir herumtrug, seitdem ich durch Burckhardt jene von Rom und Hellas trunkenen Apostel des Geistes und der Schönheit kennengelernt hatte, die wie weiland die Kreuzritter zur Eroberung des Heiligen Grabes in die östlichen Lande zogen, um unter tausend Gefahren – friedliche, weichgewohnte Gelehrte die sie waren – die Herrlichkeiten des griechischen Genius für die Menschheit zu retten. Ich ersann mir ein sehr verwickeltes Gespinst um ein verlorenes, nur im Namen erhaltenes Werk des Cicero, sein heiteres liber jocularis, nach dem ich die florentinischen Gelehrten unter teils tragischen teils komischen Umständen mit glühendem Verlangen fahnden ließ, und brachte dieses Fahnden in Beziehung zu dem im Jahre 1482 stattgehabten Besuch des Grafen Eberhard von Württemberg und seines Gefolges am Hofe des Lorenzo Magnifico, weshalb ich die Erzählung ursprünglich »Die Schwaben in Florenz« betiteln wollte. Mit dem angeblichen Fund und der nachfolgenden gänzlichen Vernichtung des berühmten ciceronianischen Kodex führte ich auch den gelehrten Freund Wilhelm Hertz irre, der sich bei mir erkundigte, was es denn mit jener Entdeckung für eine Bewandtnis habe.
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