Die leichte und feine Luft dieser Kreise, ihre ebenso vornehme wie natürliche Haltung taten mir so wohl, dass ich mich willig nach ihrer Weise modelte und auch mit einer geringeren geistigen Ausbeute zufrieden war, weil mir die Verbindung von gesellschaftlicher Hochzucht und erdnaher Nahrhaftigkeit immer neue gegensätzliche Anziehung bot. Was mir Tatjana von ihrer Jugend auf russischen Gutshöfen erzählte, von den rasenden Schlittenfahrten durch die Steppe über Stock und Stein, wo es nichts zu besagen hatte, wenn einer der Insassen unterwegs abhanden kam und später aus dem Schnee wieder hervorgesucht werden musste, das gab mir ein Gefühl jener Grenzenlosigkeit des russischen Raumes und der sich darin abzielenden menschlichen Möglichkeiten, woraus die Russen ihre berühmte »schirokaja natura« (weite Natur) ableiten. Ich, die ich mein Leben lang vor engen Begriffen, engen Wänden und engen Tälern mit gleichem Schrecken floh, fühlte mich darin der slawischen Seele verwandt. Und wie in der Frühzeit mit der geliebten Lili 1hielt ich es mit den russischen Freundinnen wieder, nur dass die Drehung der Spirale mich unterdessen um einen erweiterten Umlauf höher geführt hatte: ich nahm in mich auf, was sie mir Neues, Reizvolles boten, stellte mich bewusst auf ihren Standpunkt, ging in alle ihre Belange ein. Ich las und lobte mit ihnen die oberflächlichen französischen Romane, die ganz Europa entzückten, und wenn die reifere Sonja gelegentlich einen kritischen Einwand erhob, gab ich der geliebteren Tanja recht, denn auf ein bisschen mehr oder weniger Kitsch, gemessen an dem, was ich zu Hause las, kam es da gar nicht an. Es war dies keine Untreue gegen mein wahres Selbst und keine Unwahrheit gegen die Freundschaft, sondern ich trennte mich bewusst in zwei Hälften, von denen die eine sich dem Augenblick anpasste, um vom Druck des Alleinseins entlastet einmal die Süßigkeit liebender Gemeinschaft zu kosten, so wie man zur Faschingszeit ein Maskenzeichen anlegt, um an einem festlichen Abend teilzunehmen – nicht dass die Freundschaft eine Maske gewesen wäre, nur die Anpassung war es, durch die ich leichter zu der Freundschaft kam. Die andere Hälfte hütete indessen in unsichtbarer Tiefe ihre alten Götter, die sich nicht in Gesellschaft mitnehmen ließen. Ich war wieder jung, unwahrscheinlich jung, seelisch und körperlich; die erlebten traurigen Jahre strich ich mir selber aus der Rechnung.
Von den zwei Schwestern war Sonja die ausgezeichnetere, hoch und schmal, mit dem seltenen Gegensatz der schweren blauschwarzen Flechtenkrone und den tiefblauen, dunkelbewimperten Augen; die Madonna vom Kaukasus nannte sie ein gemeinsamer italienischer Freund. Aber man kam ihr nicht nahe, denn sie war sehr schüchtern, was in einem leichten Stottern seinen Anlass hatte und als Kälte erschien, sodass ihre Zurückhaltung andere zurückhaltend machte. Dabei hatte sie das weichste, gütigste Herz; ein Zug, den sie mir einmal von sich als eine Schwäche erzählte, war dafür tief bezeichnend. An einem Gesellschafts- und Spielabend in hocharistokratischem Petersburger Zirkel wurde ein junger Offizier aus dem vornehmsten Regiment als Falschspieler entlarvt und schmachvoll ausgestoßen. Der Skandal war ungeheuer, die Gesellschaft brach sogleich auf und strömte die Treppe hinunter an dem Gebrandmarkten vorbei, der sich bleich und verzerrt auf einem Treppenabsatz an die Wand drückte. Als die fürstliche Sonja vorüberging und den Jammermenschen sah, da erbarmte sie die entwürdigte Menschheit in einem, der soeben noch ihresgleichen gewesen war. Persönlich ging er sie nicht das geringste an, aber sie trat hinzu und reichte ihm vor aller Augen die Hand. Natürlich fanden es ihre Bekannten lächerlich, und sie lachte sich auch selber ein wenig aus, aber ich schloss sie für diesen Zug in mein Herz, denn ich wusste, was es sie bei ihrer Schüchternheit gekostet haben musste, und dass auch hinter dem Mitleid die Erkenntnis stand, dass im Grunde die Richter und Rächer ebensowenig taugten, weil sie doch alle auf ihre Weise so oder so Falschspieler des Lebens waren.
Aber Tatjana stand mir trotzdem näher. Wir hatten beide – sie noch, ich wieder – das Jungmädchenlachen, das grundlose, aus bloßer Freudigkeit entspringende, das in mir soviel Zerpresstes, schmerzlich Erdrücktes entband. Sonja lachte nicht, sie lächelte nur: On ne rit plus quand on est mariée, 2sagte sie. Tatjana war einer der selbstlosesten Menschen, die mir begegnet sind, überall trat sie zurück; sie, die selber so schön war, suchte nur immer mich zu schmücken und vorzuschieben, wenn wir zusammen ausgingen, denn sie führten mich in alle Häuser ein, wo sie verkehrten. Wenn ich mich für ein Fest ankleidete, kam sie mit Blumen, die sie mir ins Haar oder ans Kleid steckte, kniete zusamt ihrer cameriera am Boden, um mir die Schleppe gefälliger zu raffen. Ihren kostbaren Schmuck legte sie niemals an, weil ich dergleichen nicht besaß und mir nichts von dem ihrigen schenken ließ. War ich in der allerersten Jugend meinen Jahren weit vorangeeilt, so blieb ich jetzt in den Zwanzigen dem Leben gegenüber grüner als mein wirkliches Alter und hatte auch an frühen inneren Erfahrungen manches nachzuholen, denn seltsam blühten mir alle Blumen und reiften mir alle Früchte außerhalb ihrer Jahreszeit. Diese Mädchenfreundschaft, wie sie bei anderen in die Schulzeit zu fallen pflegt, lebte wie die Verliebtheit zwischen Jüngling und Mädchen, sonst ein Vorspiel zu dieser, in stetem Auf und Nieder der Gefühle, in Zürnen und Schmollen, in Lachen und Weinen, in schmerzlicher Abwendung und in beglückter Wiederversöhnung, worüber die fertigere Sonja lächelte: es war die Jugendunruhe, die, was sie besitzt, gleich wieder aufs Spiel setzen muss.
Mein Balde, jetzt achtzehnjährig, aber in der Seele durch sein langes Leiden völlig Kind geblieben, mit seinem edlen altdeutschen Gesichtsschnitt bildschön wie aus einem Dürer herausgetreten, hatte sich, so wie es ihm als kleinem Knaben bei Lili ergangen war, in meine edle Freundin mit verliebt. Sie merkte es, und aus Dankbarkeit küsste sie ihn eines Tages; das kränkte ihn jedoch, denn er wollte nicht als Kind behandelt sein.
Da der ewige Trieb nach dem Meere, der von klein auf mit mir ging, noch immer nicht gestillt war und meine Mutter mir nicht gestatten wollte, allein einen der berühmten Strandplätze aufzusuchen, was auch nach Landesbegriffen sehr anstößig gewesen wäre und mir Belästigungen zugezogen hätte, erbarmten sich die Freundinnen meiner und fuhren mit mir nach Livorno. Als die Gegend flacher und flacher wurde und endlich ein blauer Streifen am Horizont erschien mit einem senkrechten Strich darauf, das erste Segel eines Meerschiffs das ich sah, da wollte mir vor Entzücken das Herz aus dem Leibe schießen. Talatta! Talatta! An dem schönen Klippenstrand von Antignano fanden wir eine weite, ins Meer hinausgebaute Badehütte, deren Vorderseite fast in ganzer Breite nach dem Meere offen war. Schwimmanzüge hatten wir keine mitgebracht, das machte meinen unbefangenen Russinnen nichts aus, ohne Umstände warfen sie die Kleider ab und tauchten ins Wasser, verwundert ob meines Zögerns. Da tat ich das gleiche, und wir schwammen hinaus ins Tiefe, dessen wundervolles Tragen ich zum ersten Male empfand. Es war ein herrliches Schwimmen, das außer uns selbst kein Menschenauge sah, bis hinter einer Klippe ein Boot voll junger Leute herauskam und uns zu schleuniger Umkehr nötigte.
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