Endlich war ich der ewigen Verketzerung müde, die sich in der Kleinstadt an alle meine Schritte heftete, und ich entschloss mich, auch ohne Rückensicherung den Sprung ins Leben hinaus zu wagen. Im dritten Jahr nach meines Vaters Tod befand ich mich in München, um mir ein neues, sinnvolleres Dasein zu gründen. Der unvergesslich lächerliche Anstoß zu diesem Schritt – meine Eingabe an den Senat um Zulassung der Damen, wenn auch nur für eine Stunde wöchentlich, zu der akademischen Schwimmschule, die nicht nur von der hohen Stelle nachdrücklichst abgelehnt wurde, sondern auch in der Frauenwelt selber eine heftige Entrüstung gegen die Anstifterin des unsittlichen Vorschlags entfesselte – steht in meinem »Jugendland« des näheren zu lesen und ist auch in Tübingen selbst unsterblich geblieben. Bezeichnend war es, dass eine Jugendfreundin meiner Mutter aus ihren Mädchentagen den Erinnyenchor gegen mich führte. Bei meinem Wegzug wollte ich aber noch ein sichtbares Siegel unter meine dort verlebten Jahre setzen, und ich errichtete auf dem Tübinger Friedhof meinem Vater das hochragende Denkmal, das noch heute seinen schönsten, weihevollsten Schmuck bildet. Ich hatte in mehrjähriger, weil oft unterbrochener Arbeit den schönen zweibändigen Roman von Ippolito Nievo »Le confessioni di un ottuagenuario« übersetzt und dafür von der »Wiener Neuen Freien Presse« ein für meine damaligen Verhältnisse schwindelnd hohes Honorar, tausend österreichische Gulden, eingeheimst. Die Summe hätte als Sprungbrett in das neue Leben dienen sollen. Aber ich konnte ja nicht einen nackten Erdhügel, worauf nur im Sommer ein Lorbeerbäumchen kümmerte, im Rücken lassen. Nachdem ich die Jahre her vergebens gewartet, ob das Schwabenland oder die Vaterstadt Reutlingen oder eine Dichtergilde oder die Partei, der er seine Kraft geopfert hatte, sich ihres großen Toten erinnern würde, nahm ich die Sache selber in die Hand und stellte ohne kleinliches Sparen ein Werk nach meinem Herzen auf. Ich gab das ganze eingenommene Geld dafür hin, von keiner Seite kam mir ein Zuschuss. In Anbetracht meiner Lage und des damaligen Geldwertes war es ein Widersinn, aber ich habe es nicht bereut. Niemand, der den Platz betritt, kann sich der davon ausgehenden Weihe entziehen. Eine steinerne Muse auf hohem Sockel unter den hochragenden deutschen Tannen – damals war es noch ein ganzer Hain – für mich bedeutete es die Vermählung der zwei urverwandten Welten, der germanischen und der griechischen, die meinem Elternhause den Stempel gaben. Ich wollte keine trauernde, sondern eine sinnende Muse, deshalb verfiel ich auf eine Nachbildung der antiken Polyhymnia, zu der mich mein Vater oft in dem feierlichen Antikensaal der Schlossbibliothek wo er waltete geführt hatte. Der benachbarte Hölderlin schlief unter der unsäglichen Schwermut der bis zur Erde hängenden Trauerweiden, tief verborgen und halb vergessen, wie er es im Leben gewesen; ich freute mich der steilen Wipfel des deutschesten Baumes über dem Haupt eines der deutschesten Dichter. Ich hatte meinem Herzen Genüge getan, mein »Dämon« war mit mir zufrieden! Dann trat ich mit wenigen Mark in der Tasche, die unsere teure Josephine hergab, die Fahrt nach München an. Dass ich den Vorschuss nicht anders erstatten konnte als durch den bescheidenen Denkstein, den ich ihr später selber in Florenz auf dem Friedhof Agli Allori setzte, war mir lebenslang ein Stachel.
Jetzt nahm ich tiefe Atemzüge in der Freiheit. Die ewige Pein um die Lieben zu Hause war abgefallen, da die zwei ungleichen Brüder Männer geworden waren, die sich untereinander und der Mutter beistanden. Edgar als blutjunger Dozent hatte Alfred unter seinen Hörern; das beendigte ganz von selbst die Knabenfehde. Wohl schrieb Mütterlein ihre klagevollen superlativischen Briefe, aus denen ein Uneingeweihter lauter Unheil hätte entnehmen müssen. Aber Balde, das treue Bruderherz, sandte heimlich beruhigende Zeilen nach. Für nichts auf der Welt zu sorgen haben als für sich selbst – ein unfassbarer Glücksstand! Dabei war ich nicht einmal allein, denn Erwin teilte als junger Akademiker meine Münchner Wohnung; wenn er auch seine eigenen Wege ging, so hatte doch jedes ein Stück Heimat bei sich. Innerhalb von sechs Monaten war meine Stellung in München gemacht. In der literarischen und künstlerischen Oberschicht hatte ich mir einen erlesenen Freundeskreis erworben, meinen Unterhalt bestritt ich durch Sprachunterricht und Übersetzungen. Manchmal nahm ich erst morgens im Bette den Abschnitt durch, der gleich im Unterricht darankommen musste, und machte dabei die Erfahrung, dass man am besten lehrt, was man eben selber noch nicht gewusst hat.
Aber auch München war noch nicht die mir bestimmte Stätte. Hätte ich bleiben und mich völlig anpassen können, so hätte wohl bald ein günstiger Wind meine Segel erfasst und mich einen bequemeren und sichreren Kurs geführt als den mir vorbeschriebenen. Aber diese Lösung wäre zu einfach gewesen, ich musste zuvor noch einen weiten Bogen beschreiben. Was war es, das mein Dämon mit mir vorhatte? Heute weiß ich es: ich sollte nichts der Gunst und Gönnerschaft verdanken, um innerlich ganz frei zu sein, sollte künstlerisch nirgends Anlehnung finden, keiner Strömung einen Zufluss bringen und auch von keiner getragen werden, sondern mich selber durch Geklüfte quälen, unter Felsen durchwühlen, statt des raschen brausenden Laufs, den ich mir erhofft hatte, mich mäandrisch durch eine kleinlich hindernde Ebene winden, sollte wie mein geliebtester Strom, die Donau, im Boden versickern, ehe sie durchbricht nach ihrem Zukunftsland.
Im Frühjahr 1877 kam Edgar »der Plötzliche«, wie sie ihn im Verwandtenkreis nannten, auf der Durchreise nach Italien zu mir. Auch ihm waren die Sterne der Heimat nicht günstig gewesen. Er hatte trotz genialer Begabung und erprobter Tüchtigkeit nirgends im Land eine Anstellung gefunden, weil er sich in Auftreten und Anschauungsweise dem Philistertum nicht anpassen konnte. Gönnerschaft gab es nicht für die Kurzischen, und im Lande der Vettern und Basen hatten wir nahezu keine. Mein Vater besaß nur einen Bruder, der ihn nicht lange überlebte, und meiner Mutter waren die Brüder weggestorben, bevor sie geboren wurde, auch waren die Brunnows nicht im Lande ansässig. Jetzt wollte er es in Florenz versuchen und, sobald er Fuß gefasst hätte, Mama mit Balde und Josephine nachholen; von mir hoffte er, dass ich mich dann gleichfalls anschließen würde. Auch mit ihm ging das Glück, denn schon im August konnte er berichten, dass er festen Boden unter den Füßen hatte. Es war dabei auf eine Weise zugegangen, die nahe ans Wunderbare streifte: er hatte bei einem russischen Kind, das keine Nahrung behalten konnte und langsam Hungers starb, allen anderen ärztlichen Diagnosen entgegen, einen äußerst seltenen Fall, nämlich einen Sack in der Speiseröhre, der die getrunkene Milch zurückhielt und nach einigen Stunden unverdaut wiedergab, durch bloße Geistesschärfe – denn man wusste ja noch nichts von Röntgenstrahlen – erkannt und festgestellt. Durch die Sicherheit seines Blicks und die Festigkeit seines Auftretens hatte der vierundzwanzigjährige deutsche Arzt, der bei seiner zarten, fast mädchenhaften Schönheit noch jünger aussah als er war, im Handumdrehen ein Ansehen erlangt, das ihm gestattete, sich in einem Weltmittelpunkt wie Florenz eine nicht mehr zu erschütternde, wenn auch rings von kollegialen Anfeindungen umlagerte Stellung zu schaffen. Aus Florenz erreichte mich sein Ruf: Kommen! Aus Tübingen scholl es verstärkt herüber: Kommen! Mitkommen! So lieb mir München geworden war, ich verstand den Ruf des Schicksals und sagte: Ja.
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