Neuerdings ist nun doch wenigstens dem Forscher und Gelehrten Hermann Kurz aus der Fachwissenschaft selbst ein mit allem gelehrten Rüstzeug ausgestatteter Kämpe erstanden in Professor Heinz Kindermann, in seiner grundlegenden kleinen Schrift »Hermann Kurz als Literarhistoriker«, worin das so gut wie unbekannte und doch so vielsagende wissenschaftliche Lebenswerk des Dichters ans Licht gehoben ist. Es darf nahezu als eine Entdeckung gewertet werden, dass der Verfasser in Hermann Kurz »eine der interessantesten, weil vielseitigsten und entwicklungsfähigsten Dichterpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts« erkannt hat. »Philosophische und literarhistorische, politische und archäologische, kulturhistorische und anthropologische Arbeiten«, sagt er, »entstehen da mitten zwischen seinen dichterischen – und daneben erwächst überdies eine übersetzerische Arbeit, die ihrem Umfang und ihrer Qualität nach allein ein Lebenswerk für sich bedeuten könnte.« Eben dieser übersetzerischen Tätigkeit hat derselbe Gelehrte schon 1918 die bereits angeführte Studie »Hermann Kurz und die deutsche Übersetzungskunst im 19. Jahrhundert« gewidmet und darin mit außerordentlicher Spürkraft die weit verstreuten, fast unübersehlichen, aus allen Bereichen und Zonen stammenden Früchte der Verdeutschungskunst meines Vaters zusammengefasst. 5Mit Recht sieht der Verfasser an dieser ausgeschütteten Fülle eingeheimsten Fremdgutes das Streben nach einer deutschen Weltliteratur und einen erfolgreichen Kampf für die Weltgeltung deutschen Geistes.
Ich kann nicht ohne stille Trauer daran denken, dass ich neben diesem weltenweiten Genius heranwachsen durfte und doch nicht anders an ihm teilhaben als durch die schweigende Luft, die ihn umgab, und dass ich mir später von dem entgangenen Erbgut Stück für Stück, soweit es mir erreichbar, allein erwerben musste. War’s, dass seiner Natur jeder lehrhafte Zug fehlte und er nur zu eingeweihten Geistern über das sprechen mochte, was ihn innerlich erfüllte? Oder war’s, dass er sein Schweigen überhaupt nicht mehr brechen konnte, hinter dem er das bittre Leid seines Lebens so streng verbarg, dass seine Umgebung nichts davon empfand? War’s meine eigene Schuld? Die Unreife und Scheue meiner Jugend, dass ich es verschob, ihn nach so manchen Dingen zu fragen, bis unversehens die Stunde da war, wo es keine Antwort mehr geben konnte. – Ich habe nie begriffen, dass man sich in den unbekannten Reichen eine Fortdauer in der eigenen irdischen Persönlichkeit wünschen mag, da es doch nunmehr an der Zeit schiene, auf eine höhere Stufe zu gelangen und das hier Erlebte, bis zu Ende Gekostete, von sich zu tun. Wenn ich mir aber doch ein Wiedersehen denken könnte, so wäre es mit der ruhevollen Größe und Güte meines Vaters, der mir ein unerfülltes und unvollendetes Stück Leben geblieben ist. Es war einer der schönsten Träume, die ich je geträumt habe, dass er mir einmal in eigener Gestalt, aber das Haupt in ein unbeschreibliches Licht getaucht, auf einem Friedensgefilde schnell und freudig entgegenkam; es schien mir, dass er mit mir zufrieden sei und dass er wohl wisse, wie viele Lanzen ich für ihn gebrochen habe. Mir aber war bei dieser Begegnung zumute, als sei nun endlich der alte Schmerz gesühnt und ihm sein Recht geworden.
Kurz vor Ausbruch des Weltkriegs wurde zwischen dem jugendlichen Begründer und Inhaber des Georg-Müller-Verlags und mir eine Gesamtausgabe von Hermann Kurz vereinbart, die schlechterdings ganz vollständig sein sollte, alle dichterischen und wissenschaftlichen Werke, Gedrucktes und Ungedrucktes, je mehr desto besser, die Übersetzungen mit Einschluss des Tristan und sogar des dreibändigen »Rasenden Roland«, der »Lustigen Weiber« und der »Zwischenspiele«, dazu einen Band Briefe oder zwei, den köstlichen Text zu Konewkas »Falstaff und seine Gesellen«, ja – so weit ging die Großzügigkeit dieses Verlags – auch die dazugehörigen Scherenschnitte, um das Verständnis des Textes zu erleichtern. Es wäre ein ganz großes und gewaltiges Werk von unübersehlicher Vielseitigkeit geworden, das den Manen des großen Toten Genüge getan hätte. Was diesmal dazwischentrat, das war kein persönlicher Unstern mehr, sondern ein Weltverhängnis. Und noch in den ersten Kriegsmonaten wurde das Unheil unwiderruflich, weil eine jähe Krankheit den unerschrockenen jungen Verleger hinwegriss.
Was jugendlicher Wagemut und Opfersinn eines Einzelnen geplant hatte, ist niemals später zustande gekommen. Wird nicht im Dritten Reich, das sich die Wahrung aller nationalen Güter zum Ziel gesetzt hat, endlich einmal eine Hermann-Kurz-Gesellschaft zusammentreten, um die Bergung der wie Strandgut an den Zeitufern ausgeworfenen dichterischen Ladung des deutschesten Dichters durchzuführen? Wer immer in der Zukunft an diese Aufgabe herantreten mag, der sorge dafür, dass neben den erzählenden Werken, die ja einzeln nie aus dem Buchhandel verschwunden sind, auch die längst vergriffenen und die nie ans Licht getretenen Sachen, soweit sie der Zeit etwas zu sagen haben, obenan der Tristan, mitgeborgen werden. Auch in den Briefen meines Vaters an Rudolf Kausler, worin das ganze geistige Schwabenland von dazumal wie im Spiegel aufgefangen ist und von denen Hermann Fischer nur kurze Inhaltsangaben veröffentlicht hat, bleibt noch ein Schatz zu heben. Desgleichen möge ein kleines, 1857 geschriebenes und 1871 einmalig gedrucktes Werklein mit dem Titel »Aus den Tagen der Schmach, Geschichtsbilder aus der Melacszeit« nicht vergessen sein, das neben manchen auch heute beherzigenswerten historischen Streiflichtern den sehr verdienstlichen Nachweis enthält, dass es 1688 – andern verkleinernden und bespöttelnden Darstellungen entgegen – wirklich und wahrhaftig die tapfere Tat der Weiber von Schorndorf war, die den Anlass zur Befreiung Württembergs von den französischen Mordbrennern gegeben hat.
Alle sind sie nun schon, die großen Verkannten des vorigen Jahrhunderts, in der Sicherheit ihres Ruhmes geborgen. Wie lange soll der Eine noch im Vorhof stehen, der die Seele seines Volkes am männlichsten und zartesten gesungen hat? Soll dieses heldische Leben nicht endlich in seinem ganzen Umfang unserem Deutschland zugute kommen? Ich habe getan, was meines Amtes war, indem ich die menschliche Persönlichkeit in dem »Leben meines Vaters« 6festhielt, das eigentlich Literarhistorische der Fachwissenschaft überlassend. Die beiden obengenannten Monografien von Heinz Kindermann haben dem Literaturforscher und dem Übersetzungskünstler Hermann Kurz zu seinem Recht verholfen. Eine Zusammenfassung der künstlerischen Gesamterscheinung als Dichter, Forscher, Verdeutscher steht noch aus. Wann wird der Berufene kommen und den noch unübersichtlich daliegenden Erzkoloß zu seiner ganzen majestätischen Größe aufrichten?
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