Gerne denke ich mir meinen Vater so, wie er meinem späteren Freund Ernst Mohl bei der ersten Begegnung erschien. Dieser rannte einmal als halbwüchsiger Jüngling in Tübingen um eine Ecke, als er gegen einen schönen, hochgewachsenen Mann mit gebietendem Angesicht und strahlenden Blauaugen anprallte. Der Angestoßene hielt ihn mit den Armen ab und sagte lächelnd: Wohin so stürmisch? Miene und Haltung des Unbekannten wirkten auf den Jüngling so, dass er wie verzaubert nach Hause ging, denn es war ihm, wie er mir später erzählte, zumut, als ob er einen der großen germanischen Licht- und Siegesgötter leibhaft gesehen habe.
Er war auch bei allem Misserfolg kein vom Leben Besiegter. Seine Traumwelt hatte ihn nicht verlassen. Noch stand die Poesie mit ihm auf und ging mit ihm zu Bett, durch ihren Spiegel sah er die Welt. So hatte Mörike einen großen Teil seines Lebens hindurch in der Poesie nur »als im Elemente« gelebt und hörte nicht auf, Dichter zu sein, auch wenn er völlig schwieg. Ja, er schien kaum etwas zu entbehren. Mein Vater als die viel tätigere Natur entbehrte wohl, aber er darbte nicht. Was ihm abhanden gekommen, war ja nicht die Fülle seines Geistes und Herzens, nicht das Auf- und Abwogen der dem Schöpfer dienenden Vorstellungsmasse, es war nur die magische Formel, die gestaltende Ordnung hineinbringt. Seine Forschungen über Shakespeare und Gottfried von Straßburg waren immer noch eine Art von dichterischer Tätigkeit, weil er mit jedem Wort, das er über seine Lieblinge schrieb, zugleich seiner eigenen inneren Welt Gestalt gab. Es war eine erlauchte Gesellschaft, mit der er, der Mitlebenden müde, Umgang pflog. Wenn er einen Brief an Heyse vom Schlachtfeld von Marathon datiert, über das er eben Studien machte, dann mit einem Shakespeare-Zitat beginnt, dem unmittelbar eins aus Rabelais folgt, um nach einer Reihe historischer und mythologischer Anspielungen mit einer ländlichen schwäbischen Redensart zu schließen, so war das kein totes Buchwissen, sondern allseitiger lebendiger Verkehr mit der immer gegenwärtigen Geisterwelt.
In seinen letzten Lebensjahren milderte sich wenigstens der Druck der Sorgen über dem Haupte des Dichters. Der erfolgreiche »Deutsche Novellenschatz«, den er mit Heyse bei Oldenbourg in München herausgab, lieferte die immer sehnlich erwarteten »Hilfstruppen aus dem Oldenbourgischen«, die dem Haushalt so nottaten. Die Söhne, den schwer leidenden Jüngsten ausgenommen, studierten mit Auszeichnung; dass ich an dem »Novellenschatz des Auslands«, den die zwei Herausgeber dem deutschen Novellenschatz angliederten, schon als Mitarbeiterin tätig sein konnte, erfüllte ihn mit Genugtuung. Er legte die erste Lesung und Sichtung einer beträchtlichen Anzahl fremdsprachiger Novellen in meine Hände, wobei ich Wertloses von vornherein ausschalten durfte. Von den für gut bestätigten bekam ich selber einige zum Übersetzen, erinnere mich aber nur noch an zwei französische: Stendhals »San Francesco a Ripa« und »Le Mouchoir rouge« des Grafen Gobineau, welch letztere mir beinahe die persönliche Bekanntschaft des Verfassers eingetragen hätte, als dieser nach Tübingen kam, meinen Vater auf der Schlossbibliothek besuchte und auch Mademoiselle seine Aufwartung zu machen wünschte. Leider war Mademoiselle jenes Tages abwesend, wodurch ihr die Begegnung mit einem der feinsten Geister der Zeit, dem Dichter der »Renaissance«, den mein Vater als den vollendeten Kavalier der alten Schule schilderte, entging.
Wie gründlich satt er der Menschheit im ganzen war, so hatte er doch keine Anlage zum Timon: dem Einzelnen kam er immer wieder mit der gleichen Güte entgegen. Wenn der jugendliche Wilhelm Raabe ihm nachrühmen konnte, dass jede Begegnung mit ihm ein Fest gewesen, so beweist es, mit welch unverlöschbarer Liebeskraft sein Herz jederzeit dem Gleichstrebenden zuflog. Auch Anfänger und Dilettanten, die sich um Rat und Förderung in dichterischen Dingen an ihn wandten, konnten der feurigsten Bereitschaft gewiss sein und einer Billigkeit zur Anerkennung, die gelegentlich fast zu weit ging. Seine Menschenliebe war so groß, dass er sogar einmal einen Menschen damit ins Unheil brachte. Er hatte auf der Neckarhalde einen Brief in den Kasten gelegt, als er, nach Hause gekommen, in seiner Brusttasche den Umschlag mit der eben empfangenen Rate seiner Besoldung vermisste. Vergeblich suchte er alle Wege ab die er gegangen war, da brachte ihm am anderen Morgen der Postbote das verlorene Geld. Gerührt von der Anständigkeit des armen Finders, schenkte ihm mein Vater die Hälfte des Betrags, ein schweres Opfer bei der wirtschaftlichen Lage der Familie. Das war des Mannes Verderben. Er vertrank das Geld, trank weiter, verlor seinen Posten und ging zugrunde.
Im Sommer 1873 brachte ein Sonnenstich, den er sich bei der Enthüllung des Uhland-Denkmals zugezogen hatte, wobei die Herren in praller Mittagsglut mit entblößtem Haupte stehen mussten, eine jähe Verschlimmerung des alten Leidens. Er hatte es geahnt und der Feier schon lange mit Misstrauen entgegengesehen. Heftige Aufregungszustände stellten sich ein, wobei er niemand um sich haben wollte als mich. Täglich musste ich ihn auf langen, sturmschnellen Gängen fliegenden Fußes begleiten; was ich damals an banger Verantwortung trug, hat mein Gedächtnis später fallen lassen, ich fand es erst in den Briefen meiner Mutter aus jener Zeit wieder. Im September trat eine tiefe Ermattung ein, er muss das nahe Ende gespürt haben, ohne dass er davon sprach. Er konnte nicht mehr. »Ruhe nun aus, armer Vogel«, schrieb er unter Anführungszeichen an den aus der Ferne treuen Anteil nehmenden Freund in seinem letzten, vom 6. Oktober datierten Brief. Am 10. ruhte er schon für immer. Das Herz war ihm buchstäblich zersprungen.
Konnte es für ein Dichterherz, das so hart gekämpft und so schwer getragen hat, ein symbolhafteres Ende geben als dieses? Die Werke, die dem großen Herzen entströmt waren, lagen da, als wären sie nie gewesen. Weshalb dieses Los einem Dichter, der den Besten seiner Tage zum mindesten ebenbürtig war? Von je haben sich die berufensten Köpfe vergeblich mit dieser Frage gemüht, die sich mit wachsender zeitlicher Entfernung immer mehr als eine allgemein kulturelle herausstellt. Nach Kriegsende schrieb mir ein so feiner Literaturkenner wie Graf York von Wartenburg, der Sohn des Geschichtsphilosophen, über diesen Gegenstand einen ungemein geistreichen Brief, aus dem ich mich nicht enthalten kann, einige Zeilen wörtlich herzusetzen: – – – »Sie werden die Geschichte von dem österreichischen Feldmarschall und Aristokraten kennen, der dem alten Goethe in Karlsbad erklärte, dass er nur seit lange verstorbene Autoren lese und zu seinen Gunsten keine Ausnahme machen könne. Ganz so schlimm treibe ich es nun nicht, aber meine Kenntnis der deutschen Literatur nach den Romantikern ist ungebührlich gering. So bin ich denn auf die Werke Ihres Herrn Vaters erst aufmerksam geworden durch die schönen Denkmale der Pietät, die Sie Ihren Eltern gesetzt haben. Ich entsinne mich, dass mein Vater inmitten schwerer Leiden Freude und Gefallen fand an des alten Kerners Haus- und Freundeskreis, wie sie von seinem Sohn geschildert werden, und ähnlich ist es mir mit Ihren Berichten über Elternhaus, Jugend und Heimat ergangen, sie haben mich erquickt in Zeiten, wo ich zu anderer Beschäftigung mich unfähig fühlte. Ursprünglichste menschliche Verhältnisse rein dargestellt wirken Teilnehmung, Anklang und Widerhall.
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