Zum Ausbau im verkürzten Maß.
Die Schwächen jugendlicher Genialität, womit dieses Frühwerk da und dort behaftet ist, hatte mein Vater noch ausmerzen wollen, die Überschwenglichkeiten dämpfen, Längen zusammenziehen, wie die kleinen, in seinem Handexemplar angebrachten Zeichen und Winke beweisen. Unfasslich ist es mir, dass von den vielen, immer wieder Längstbekanntes nachdruckenden Anthologien keine sich des brachliegenden Schatzes bemächtigt und die schönsten der lyrischen Stellen mit ihren langen, über die Heimlichkeiten der Menschenbrust hinfallenden Lichtern herausgebrochen hat, die in das Gestein des Epos wie Goldblicke eingesprengt sind, um sie, jede ein Gedicht für sich, der vaterländischen Dichtung zu retten. Ich denke an Stellen wie die aus tiefster Ehrfurcht für die Frau geborene: Das Weib ist Herz von Gottes Herzen – und jene andere, die mit dem Liebesleben des Mannes Abrechnung hält:
Und obs meinen Brüdern nicht behagt,
So bleibt es dennoch wahr gesagt:
Mannesherz ist ein ärmlich Ding –
Welch unverdorbenes junges Herz, wenn es der Macht der Poesie zugänglich ist, hätte für solche Töne stumpf bleiben können? Mit poetischen Wunderzeichen gleich diesen über dem Haupt hätte wohl auch die weibliche Jugend – denn sie ist es vor allem, die in der Dichtung den Wegweiser für das Leben sucht – nicht in das hetärische, um nicht zu sagen dirnenhafte, die Liebe in hundert Liebeleien verplempernde Treiben der Nachkriegsära fallen können, das aus dem herrschenden verderbten Literaturbetrieb unmittelbar seinen Ursprung herleitete. Kein zerschmetternderes Zeugnis für die entseelende Wirkung der jüngst verflossenen Literaturepoche als dieses Verhalten der Frauenwelt. Traurig ein Dichtergeschlecht, das sein Amt, die Jugend zu veredeln, abschwört. Traurig die Jugend, die es verlernt, sich in dem Stahlbad einer hohen und reinen Dichtung gegen die niedrigen Versuchungen zu kräftigen.
Aber Lebendes, das ins Dunkel gestoßen ist, will weiter zeugen, wenn auch auf namenlosen Wegen. Wer von den Millionen Hörern, die in allen Opernhäusern der Welt in Siegfrieds Liebestod geschwelgt haben, weiß etwas davon, dass diese ekstatischen Sehnsuchtslaute zuerst von einem Dichter namens Hermann Kurz im Schlussgesang seines Tristan angeschlagen worden sind und von da in das Tonwerk Wagners übergeströmt, nicht im Wort, versteht sich, sondern als erschütternder, die menschliche Natur in allen Tiefen aufwühlender Stimmungsgehalt. Soweit ich Dichtung kenne, weiß ich keine, in der so die Qual des Wartens durch all die Länge ihrer unerträglichen Phasen dargestellt ist von dem furchtbaren Anruf: »Tod, hast du deinen Mann zuletzt –« bis zu der angstvollen, halberstickten Klage: »Warten und Harren, kommt sie nicht?« Aus Wagners Tristan hallt es zurück: »Im Sterben mich zu sehnen! Vor Sehnsucht nicht zu sterben!«
Ich habe schon vor Jahren bei einem zu Stuttgart gehaltenen Vortrag, gestützt auf die persönlich mir getane Äußerung von Frau Cosima Wagner, dass sie die Tristanbearbeitung von Hermann Kurz wohl kenne, die Ansicht ausgesprochen, der Tristan Richard Wagners sei von meines Vaters Tristan beeinflusst. Doch hatte ich für diese meine Überzeugung keine anderen als die inneren Beweise. Unterdessen sind mir vollgültige literarische Zeugnisse zugekommen, die meine persönliche Auffassung bestätigen. Am ausführlichsten bei dem Wagner-Biografen Wolfgang Golther: »Tristan und Isolde in den Dichtungen des Mittelalters und der Neuzeit«, 1929. Er sagt: »Gottfrieds Gedicht kannte Wagner aus der neuhochdeutschen Bearbeitung von Hermann Kurz. Mit einer schönen und gehaltvollen Einleitung war hier auf die mythischen Bestandteile der Tristanssage hingewiesen, die auch in der Siegfriedsage wiederkehren sollten … So erschienen ihm von Anfang an Tristan und Siegfried in einer gewissen inneren Verwandtschaft. Kurz betonte im Tristan vor allem den tiefen Ernst: ›Ein alter Mythus vom Erringen und Nichterlangen oder Verlieren zieht sich halbverklungen durch diese Sagen hin, und im Tristan schimmert noch das Heroische und Tragische zwischen dem Höfischen und Modischen hervor.‹ Eben dieser tragische Faden ist mir auch in den glänzenden Geweben Gottfrieds überall sichtbar und scheint mir von der Kritik lange nicht genug beachtet zu sein: so glaube ich zum Beispiel, dass die Rede der Königin im Garten, welche unter leichten Täuschungen eine dem Lauscher wohl verständliche Wahrheit birgt, in einem Trauerspiel von erschütternder Wirkung sein würde.«
»Von diesem schönen Tristanbuch«, fährt W. Golther fort, »empfing Wagner tiefen und nachhaltigen Eindruck, der sich sogar bis in Siegfrieds Tod erstreckt.« Gemeint ist das Vergalten Gutrunes, die sich nach Brunnhildes Sterbegesang beschämt von der Leiche Siegfrieds weghebt, ein Seitenstück zu der Szene in meines Vaters Dichtung, wo es bei der Begegnung der beiden Isolden an Tristans Bahre von der eingeschobenen Legitimen heißt:
Sie schlich sich still und scheu hinaus,
Sie konnt’ es im eigenen Herzen lesen,
Dass sie das Kebsweib war gewesen.
Die beiden falschen Bräute haben sich selbst gerichtet. Dem Hinweis des Wagner-Biografen fügt der Hermann-Kurz-Forscher Heinz Kindermann in »Hermann Kurz und die deutsche Übersetzerkunst im 19. Jahrhundert« bestätigend hinzu: »Der beste Beweis für die Nachhaltigkeit von Kurzens Werk liegt doch darin, dass es auf Richard Wagner, der Gottfrieds Dichtung zuerst in Kurzens Übertragung kennenlernt, überwältigenden Eindruck macht, der nicht nur in seinem Tristan, sondern auch in Siegfrieds Tod fühlbar wird. Auf Wagner wirkt nicht nur die poetische Leistung, sondern auch der hohe sittliche Ernst, mit dem er dem Meister mittelhochdeutscher Kunst gegenübersteht.« Der Tristan hatte ja bis dahin als ein frivoles Gedicht gegolten: konnte es mir doch selber noch in jüngeren Jahren zustoßen, bedauert zu werden, dass ich einen so anrüchigen Rufnamen tragen müsse.
Aus einer ganzen Reihe literarischer Zeugnisse, die gemeinsam auf meines Vaters Dichtung als die Quelle zu Richard Wagners Tonschöpfung hinweisen, genügt es, diese zwei belangreichsten herausgegriffen zu haben. Betont wird auch, dass es die Bemerkung meines Vaters über die Bühnenwirksamkeit der Gartenszene war, die in Wagner überhaupt die dramatische Bearbeitung des Tristanstoffes anregte.
Es war das Schicksal dieses Dichters, viele Äcker zu befruchten, während seine eigene Saat im Schatten kümmerte. Als schmerzlich empfundenen, doch nicht unwillkommenen Ersatz für eigene Dichtung griff Hermann Kurz in unsern Tübinger Jahren auf die Übersetzertätigkeit seiner Jugend zurück. Sie regte ihn heiter an, besonders die Zwischenspiele des Cervantes, in deren Gesprudel er eine merkwürdig jugendfrische Ader ergoss – ich habe mich oft gewundert, warum das Theater sich ihrer nicht bemächtigt hat. In Stunden, wo er sich so verjüngte, wenn auch im Dienst einer fremden Sache, mag er sich doch ab und zu wieder als ein glücklicher Mensch gefühlt haben. Die Wortspiele der »Lustigen Weiber«, die er für die Bodenstedtsche Shakespeare-Ausgabe übersetzte, wurden gelegentlich im Familienkreis begutachtet und beraten. –
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