Aber abgesehen von mir, dem Einzelnen, scheint mir über den Schriften Ihres Herrn Vaters ein eigenartiges Verhängnis gewaltet zu haben. Tieck, sonst so aufmerksam auf weit geringere emporstrebende Talente, hat keine Notiz von ihm genommen, 2wenigstens enthält seine Bibliothek nichts von ihm, und in den vierzig- bis fünfzigtausend Bänden, die ich außer ihr besitze, fand sich ebenfalls keines seiner Werke, bis ich vor mehreren Wochen deren Fischersche Sammlung erhielt. Mehr noch, ich entsinne mich nicht, dass Dilthey, Hermann Grimm oder mein verstorbener Onkel Wildenbruch all die langen Jahre, wo ich sie sehr häufig sah, seiner gedacht hätten. Sie haben ihn wohl nicht oder nur sehr oberflächlich gekannt. – Dafür wird er weit über halb verschollene Tagesgrößen – unter die ich auch Paul Heyse zählen möchte – hinaus leben in demjenigen leider immer enger werdenden Kreise, der inmitten des nationalen Untergangs 3das, was deutsch an uns ist, repräsentiert und bewahren wird. Leben als einer unserer größten Erzähler, Otto Ludwig an Talent äqual, ihm überlegen an Breite, Vielseitigkeit und Geschichtsempfinden. Wie Storm und Raabe die Ein- und Abgeschlossenheit des Kreises, in dem sie sich persönlich und darstellend bewegen, zu poetischem Vorteil gereichte, so möchte ich glauben, dass die Enge der württembergischen Verhältnisse, die Ihren Vater so behinderte und ihm das Leben erschwerte, seinen Werken fördersam gewesen. Seit Grimmelshausen hat kein deutscher Romanzier die volle Weite äußeren Geschehens umgriffen und wie die württembergische Landschaft allen Reiz und Heimlichkeit aus der Überschneidung kleiner Linien und der Einschränkung des Blickes zieht, der sich liebevoll in die Nähe vertieft, so ist gemütsstarke Heimatliebe recht eigentlich das Kennzeichen unserer süddeutschen Dichtung. Analog ist das Verhältnis des Dichters zu seinen Kreaturen. – Sie äußern sich bewundernd über Maupassant – ich teile dies Gefühl –, aber verhält er sich nicht den Menschen gegenüber wie der Jäger zum Wilde, das er beschleicht?« 4– – –
Das Rätsel, wie ein Dichtergenius von dieser Stärke um die Wirkung auf seine Zeit und sein Volk hatte gebracht werden können, ließ den feinsinnigen Briefschreiber nicht los, dass er in einem zweiten Schreiben vom 14. Dezember desselben Jahres noch einmal darauf zurückkam.
»Abends lese ich jetzt meinen Damen den Sonnenwirt vor«, schrieb er, »und genieße ihn so doppelt durch Wiederholung und Resonanz. Aber was an den Schriften Ihres Vaters den Zeitgenossen fremd gewesen, vermag ich noch immer nicht zu begreifen. Ich will mal mit Roethe drüber sprechen, vielleicht gibt der mir einen Fingerzeig. Ohne weiteres begreift man, dass die Generation der Befreiungskriege den Schopenhauer von 1819 ablehnte, dem ja noch Goethe erst für künftige Generationen unübersehbare Wirkung prophezeite; hier aber seh’ ich wohl Qualitäten, deren die Coetanen wie Otto Ludwig, Raabe usw. ermangelten, aber keinen spezifischen Unterschied in der geistigen Struktur.«
Ob die Frage wirklich an den genannten Gelehrten gerichtet wurde und wie die Antwort lautete, ist mir nicht bekannt. Der Briefwechsel mit dem geistreichen Nachfahren des Wegbereiters der deutschen Befreiung riss ab, der angekündigte Besuch in München unterblieb, und ich selber konnte einer gastlichen Einladung auf Schloss Klein Öls in jener Zeit der Beschränkung nicht nachkommen. Und eben da ich mir die Erlaubnis zur teilweisen Veröffentlichung der mir so bedeutsamen Briefe an dieser Stelle einholen wollte, erfahre ich, dass der ritterliche Briefschreiber seit lange nicht mehr unter den Lebenden weilt. Ich hoffe, seine Manen werden es mir nicht verargen, dass ich mir nun eigenmächtig seine Zustimmung angeeignet habe. Es wäre verlockend, die Briefe vollständig zu drucken als Muster einer nahezu aus der Welt verschwundenen Hochkultur, die im Vaterländischen wurzelt, aber den geistigen Besitz aller Völker mit umfasst, doch ich beschränke mich auf das, was zur Sache gehört.
Gewiss ist die Wahrnehmung richtig, dass zwischen meines Vaters geistiger Struktur und der seiner Zeitgenossen kein grundsätzlicher, nur ein gradweiser Unterschied besteht. – Es gibt ja in der Tat Dichter, die schlechterdings von ihrem Jahrhundert nicht verstanden werden können wie Hölderlin, dessen gewaltiger Anlauf drei Zeitgeschlechter überschwang, dass man seiner eben erst wieder ansichtig geworden ist. Aber es war kein Grund gegeben, dass die Kunst meines Vaters mit der einfachen zeitlosen Menschlichkeit ihrer Inhalte und ihrer unverwelklichen Form unbegriffen bleiben musste. Wenn der Dichter zu Lebzeiten im Buchhandel nicht durchdringen konnte, so liegt die Schuld einer engherzigen, byzantinischen Umwelt am Tage. Mitbeteiligt war die Armseligkeit des Zeitgeschmacks, die es möglich machte, dass Heinrich Laube, dem Auerbach den Stoff der »Heimatjahre« zur Verballhornung vorschlug, mit seinen albernen, durch und durch unwahren, keinem heutigen Gaumen mehr ertragbaren »Karlsschülern« von der Bühne herab dem ewig jungen Buch den Platz versperrte. Denken zu müssen, dass Schillers eigene Jugendgenossen, voran seine damals noch lebende Schwester, den »Karlsschülern« Lob spendeten, vielleicht nur weil sie in der Dürre der Zeit sich freuten, einem Schiller, wenn auch einem grundverzeichneten, auf der Bühne zu begegnen, während die »Heimatjahre«, in denen Schillers Jugend leibhaft lebt und glüht, ungelesen vergilbten! Es war Folge der gleichen Verderbnis, dass neben Auerbachs unechten, rührseligen Bauerngeschichten die echte Dorfnovelle, der aus den tiefsten Quellen des Volkstums gespeiste »Weihnachtsfund« nicht aufkommen konnte. – Ich wusste übrigens zu meines Vaters Lebzeiten wenig von den einzelnen Stationen seines Kreuzwegs, er war zu feinbesaitet und zu stolz, um je den Mund zu einer Klage zu öffnen. Was soll man nun aber dazu sagen, dass nach seinem Heimgang Storm den Lyriker Hermann Kurz als unebenbürtig nicht in einem mit Heyse herauszugebenden Dichterbuch dulden wollte – Storms dünnblütige Kunst gegen meines Vaters mächtigen Dichteratem! –, und dass Heyses Freundeswille zwar die Aufnahme erdrang, aber gerade unter den schwächeren Stücken die Auswahl traf? Beide Dichter konnten über ihre Zeit nicht hinaus, die eine satte, rationalistische war und für solche ahnungstiefen Töne wie »Die Glocken der Vaterstadt« oder das erschütternde, fast mythische »Senkt die Gefallnen hinab« kein Gehör hatte. Ich zweifle, ob mein Vater selbst sich später noch bewusst war, was er mit Gedichten wie diesen beiden, ja vielleicht mit seinen Werken überhaupt geschaffen hatte, denn wenn sich der Genius fort und fort mit falschem Maßstab gemessen sieht, so muss er ja am Ende dahin kommen, dass er sich selber nicht mehr fühlt und kennt.
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