Wie steht es nun um das Gestirn meines Vaters in unseren Tagen? Darauf ist zu antworten, dass seine Gesammelten Werke in beiden Ausgaben, der neuen Fischerschen und der älteren, von Heyse besorgten, vergriffen sind, dass die verbilligte Neubearbeitung der alten Literaturgeschichte von Heinrich Kurz (der so oft mit meinem Vater verwechselt wurde) von einem Dichternamen Kurz überhaupt nichts weiß. Und dass in dem letzten Vierteljahrhundert Hermann Kurz, der Dichter, für personengleich gehalten werden konnte mit einem gleichnamigen schweizerischen Romanschreiber vom krassesten Naturalismus, daher man immer wieder in den Katalogen der Sortimenter unter demselben Verfassernamen im bunten Strauß zusammengestellt finden musste: Hermann Kurz: Die Schartenmättler. Schillers Heimatjahre. Die gerupfte Braut. Der Sonnenwirt usw. (Die Titel des Schweizers sind von mir gesperrt). Gegen den Schaden, der hiedurch dem Namen meines Vaters zugefügt wurde, konnte ich niemals dauernde Abhilfe finden. Zu allem Unheil seines Lebens auch noch dieses posthume!
Gibt es vielleicht wirklich jenes launische Numen, das man »das Glück« zu nennen pflegt und dem es nicht darauf ankommt, die hohlste Mittelmäßigkeit für Lebenszeit auf den Schild zu heben, dem Genius aber jeden Fußbreit streitig zu machen, bis er sieglos ins Grab sinkt, ja, ihn noch über das Grab hinaus zu verfolgen? Wer solches meinen will, braucht sich seines Aberglaubens nicht zu schämen, er ist in guter Gesellschaft: man weiß ja, dass Napoleon an den wichtigen Punkt nicht den fähigsten General stellte, sondern den glückhaften. Es scheint mir aber, dass man nicht im Reich der Mystik die Verantwortung zu suchen braucht. Der Literaturgeschichte lag es ob, dem Dichter zu geben was ihm das Leben versagt hatte. Aber auch die Literaturgeschichte ist keine göttliche Offenbarung, auch sie ist von Menschen gemacht, von Menschen, die über die Grenzen des Subjekts nicht hinaus können. Ein gefeierter Hochschullehrer kann einen verdienstvollen Dichter, für den ihm persönlich das Verständnis fehlt, auf lange Zeit, vielleicht auf immer, zu den Schatten werfen. Persönliche Misshelligkeiten spielen auch eine Rolle. Er braucht nicht einmal Nachteiliges von ihm zu sagen, bloßes Schweigen genügt, damit die Hörer den Namen überhaupt nicht kennenlernen oder unter der Vorstellung der Unerheblichkeit. Treten dann die unselbstständigen jungen Menschen ihrerseits in den Lehrberuf, so hat sich das Fehlurteil vielleicht schon so in ihrem Denken festgerammt, dass sie es ohne Nachprüfung den eigenen Schülern weitergeben, die es dann später den ihrigen vererben und so fortwirkend verewigen. Wie wäre es sonst möglich gewesen, dass der glänzende aber barocke Geist Friedrich Theodor Vischers aus festgewurzelter Wunderlichkeit seinen Deutschen auf Generationen hinaus den Zugang zu Faust II sperrte, das unerschöpfliche Spätwerk mit den letzten Blitzen der Titanenkraft ob etlicher matterer Stellen als Altersgrille verwerfend. Vischer war am Stift meines Vaters Lehrer gewesen und bewahrte ihm von jener Zeit her eine Abneigung, die er auch dem reifen Dichter gegenüber nicht mehr ablegte. Bei unserer letzten Begegnung vor seinem Tod bekannte sich der Hochbetagte vor mir aus innerstem Drang der an meinem Vater begangenen Ungerechtigkeit schuldig. Er war sich bewusst, Gottfried Kellers literarische Stellung gemacht zu haben. Wie leicht hätte der berühmte Ästhetiker, dessen Wort in ganz Deutschland und weit darüber hinaus über Wert und Unwert einer dichterischen Erscheinung entschied, die Lose des verkannten Hermann Kurz – das was man seinen »Unstern« nannte – wenden können. Er brachte es fertig, in »Altes und Neues. Mein Lebensgang« die »Beiden Tubus« eine »niedliche Novelle« zu nennen! Es war meines Wissens das einzige Mal, dass er seiner überhaupt Erwähnung tat. Der hohe Schatten hat ihm, wie ich glaube, verziehen, weil er an der Tochter, die er schon in ihren Jungmädchentagen ins Herz schloss, die Unbill gutzumachen gesucht hat. Wie seine Voreingenommenheit sich aber literargeschichtlich auswirkte, dafür lieferte mir einer seiner begabtesten Schüler, Richard Weltrich, der mein und meines Bruders Erwin treuer Freund gewesen ist, ein überzeugendes Beispiel, da er von einem immer durchzufühlenden inneren Sträuben gegen die Werke meines Vaters nicht zu bekehren war. Dabei lag in beider Wesen nichts Gegensätzliches, vielmehr hätte ihr Verhältnis zu Schiller und Weltrichs spürendes ästhetisches Gewissen ein Verstehen und Eingehen begründen müssen. Vielleicht haften überhaupt bei dem Gelehrten, der gewohnt ist, seinen Gedankenbau Stein um Stein wissenschaftlich aufzumauern, die einmal empfangenen Richtlinien fester als bei dem wissenschaftlich unbeschwerten Geist, der auch einmal Gedachtes wieder umdenkt. »Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt.«
Dass meinem Vater nicht nur der volle Dichterkranz, der ihm gebührte, vorenthalten worden ist, dass sogar dem Gelehrten und Forscher Hermann Kurz die Anerkennung für seine bahnbrechenden Funde und Entdeckungen auf wissenschaftlichem Gebiet Schritt für Schritt bestritten wurde, wird einen künftigen, ins einzelne eindringenden Biografen noch zu beschäftigen haben. 1906 schrieb mir Otto Crusius, der Gräzist und Poet: »Dass ich in Ihrem Vater nicht nur auf germanistischem, sondern gar auf klassisch archäologischem Gebiet einen Fachgenossen von genialer Kraft zu verehren habe, war mir neu. Sie kennen doch die enthusiastischen Worte, mit denen eben Furtwängler (in der Jubiläumsschrift unserer Akademie) ihn gepriesen hat als den ersten Entdecker des Aphäaheiligtums auf Ägina. Diese wissenschaftlichen Aufsätze gehörten eigentlich gesammelt neben seine Dichtungen, um das Bild des ganzen Mannes zu vollenden, wie Uhlands Schriften für Sagen- und Literaturgeschichte.«
Der Fund, von dem Furtwängler spricht, war nur im Vorübergehen gemacht und teilte das Los der anderen wissenschaftlichen Arbeiten meines Vaters, von den Zünftigen zum Teil verurteilt, zum Teil niedergeschwiegen zu werden! Nur zu wohl erinnere ich mich noch aus Kindertagen dieser Schollenwürfe auf das Haupt eines Lebendigbegrabenen.
Wer soll nun also die richtende Waage halten über einen Genius, dem sein Jahrhundert nicht gewachsen war, vor dem die Literaturgeschichte versagte und an dem sogar der Spruch der Dichtergenossen, nach ihren eigenen, schwächeren Maßen zugeschnitten, fehlging? Ich denke, die Zeit , die ihr Gottesurteil schon damit gesprochen hat, dass sie das Werk des Dichters unverwelkt der Zukunft entgegentrug.
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