Auch in Thüringen wird in der Zeit des slawischen und ungarischen Drucks das alte, auf die germanische Zeit zurückgehende Stammesherzogtum, das bereits die Merowinger beseitigt hatten, erneuert. Es ist jedoch wesentlich kleiner als das benachbarte Sachsen, unter dessen Einfluß es sich bald auflöst. Zwar haben die Landgrafen von Thüringen wiederholt versucht, die politische Einheit des Landes wiederherzustellen. Sie scheitern jedoch aus drei Gründen: Nordthüringen ist inzwischen wie andere Teile des Harzraums weitgehend Königs- und Reichslandschaft geworden, im Eichsfeld und um Erfurt, also gerade in der Mitte des Landes, behauptet sich das Mainzer Erzstift, und auch die kleineren einheimischen Herrschaften stellen sich dem Anspruch der Landgrafen entgegen, allen voran die Grafschaften Schwarzburg und Weimar-Orlamünde.
Östlich der Saale entstehen im Zuge der politisch-kirchlichen Expansion des ottonischen Reiches auf slawischem Boden die Bistümer und Markgrafschaften Merseburg, Meißen und Zeitz-Naumburg, die – anders als die Marken im Norden des Elb-Oder-Gebiets – ununterbrochen in deutscher Hand bleiben und die auch hier im 12. Jahrhundert einsetzende Ostsiedlung politisch absichern können. Dies gilt auch für die Mark Lausitz (Niederlausitz um Cottbus, Oberlausitz um Bautzen), wo sich jedoch die slawische Bevölkerung länger behauptet, teilweise bis heute.
In Süddeutschland, wo die Ungarngefahr besonders groß ist, kommt es in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts ebenfalls zur Neubildung der von den Franken beseitigten Stammesherzogtümer, deren Grenzen sich – wie in Sachsen und Thüringen – genau mit denen des jeweiligen Siedlungsgebietes decken. Im Südwesten entsteht zwischen Alpenhauptkamm, Vogesen, Lech und alemannisch-fränkischer Sprachgrenze (Hagenauer Forst – Lauter- und Murgtal – Hornisgrinde – Asperg – Hohenberg) das Herzogtum Schwaben, wobei das Elsaß zeitweilig ein eigenes Teilherzogtum bildet.
Schwaben wird zunächst von verschiedenen Dynastien regiert (Burchardinger, Konradiner, Liudolfinger), bevor Kaiser Heinrich IV. 1079 die Herzogwürde an die Staufer überträgt, die sie bis zur Auflösung des Herzogtums im Jahre 1268 behalten. Das Land gewinnt in dieser Zeit große Bedeutung für die Reichspolitik, doch stellen die Staufer keineswegs die einzige politische Macht im Stammesgebiet dar. Den – durchweg sehr alten – Bistümern Straßburg, Basel, Chur, Konstanz und Augsburg werden auch hier seit der Zeit Ottos des Großen weltliche Hoheitsrechte übertragen, in geringerem Umfang auch den in Schwaben besonders zahlreichen Reichsabteien (St. Gallen, Reichenau, Kempten, Beuron, Ottobeuren, Altdorf/Weingarten, Marchtal, Ellwangen, Zwiefalten, Neresheim). Als politische Konkurrenten der Staufer treten jedoch vor allem die Zähringer in Erscheinung, die im Breisgau, im Südschwarzwald, in Burgund und in der Nordschweiz erheblichen Besitz erwerben und die ebenfalls den Herzogstitel führen. 1078 spaltet sich von ihnen die Linie der Markgrafen von Baden ab, neben denen noch die Grafen von Habsburg (Stammsitz: Habichtsburg an der Aare) Bedeutung haben.
Einen beträchtlichen Teil Schwabens nimmt das Reichs- und Königsgut ein, das sich vor allem zwischen Kolmar und Hagenau, um Zürich, im Allgäu-Bodensee-Gebiet und im Lech-Donau-Raum konzentriert und sich nach dem Aussterben der Staufer noch beträchtlich vergrößert. In diesen Gebieten sind die zahlreichen Klein- und Kleinstterritorien entstanden, wie sie für die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte Schwabens typisch sind.
Zum größten und geschlossensten deutschen Stammesstaat entwikkelt sich das Herzogtum Bayern. Die gegen Ende des 9. Jahrhunderts auftretende Dynastie der Luitpoldinger knüpft an die Tradition der Agilolfinger an, die bereits im 8. Jahrhundert das gesamte Stammesgebiet vom Lech bis zum Wienerwald, also auch das heutige Österreich mit Ausnahme des alemannischen Vorarlbergs, beherrscht haben. Otto der Große setzt 947 seinen mit einer Luitpoldingerin verheirateten Bruder Heinrich als Herzog ein, der die bayrische Linie der Ottonen begründet. Der Höhepunkt der bayrischen Machtstellung ist erreicht, als sein gleichnamiger Enkel 1002 zum deutschen König gewählt wird und von Regensburg und Bamberg aus das Reich regiert (Heinrich II., 1002–1024).
Von 1070 bis 1180 herrschen in Bayern die Welfen, die aber während des staufisch-welfischen Bürgerkriegs zeitweilig den Babenbergern weichen müssen. 1156 erhält der Welfe Heinrich der Löwe von seinem Vetter Friedrich Barbarossa das Herzogtum zurückerstattet, vermindert lediglich um die „Mark Ostarrichi“ (heutige Bundesländer Wien und Niederösterreich), mit der die Babenberger abgefunden werden.
Anders als in anderen Stammesherzogtümern können in Bayern regionale Gewalten neben der Herzogsmacht nur schwer aufkommen. Die ausgedehnteste Herrschaftsbildung gelingt den Erzbischöfen von Salzburg, die im gesamten Salzachgebiet, also noch über das heutige Bundesland hinaus, politische Befugnisse ausüben. Demgegenüber ist der Besitz der Bistümer Freising, Brixen, Regensburg und Passau mehr als bescheiden, obgleich letzteres in kirchlicher Hinsicht zeitweilig bis zum Wienerwald reicht. Unter den Abteien des Herzogtums ragen neben den Donauklöstern Weltenburg und Melk vor allem Berchtesgaden und St. Emmeram in Regensburg heraus.
Auch die weltlichen Herren des Landes bleiben den Herzögen gegenüber ziemlich ohnmächtig. Sieht man einmal von der Markgrafschaft Krain, dem zeitweilig von Bayern gelösten Herzogtum Kärnten und der Grafschaft Tirol ab, so entwickeln sich nur kurzzeitig einige kleinere Territorien wie die Grafschaften Andechs, Scheyern-Wittelsbach, Ortenburg, Wasserburg und Burghausen.
Den ersten entscheidenden Schritt zur Loslösung Österreichs aus dem bayerischen Stammesverband stellt die erwähnte Vereinbarung zwischen Heinrich dem Löwen und Barbarossa von 1156 dar. Die damals von Bayern abgetrennte Ostmark, die in ein „Herzogtum Österreich“ umgewandelt wird, ist zwar nur klein, doch gesteht der Kaiser, um den Babenbergern den Verzicht auf das Gesamtherzogtum schmackhaft zu machen, dem neuen Land so weitgehende Hoheitsrechte zu, daß es als „territorium clausum“, als erster Flächenstaat im modernen Sinne, bezeichnet werden kann. Insofern stellt es in der Folgezeit das Vorbild für alle nach „Landesherrschaft“ strebenden Fürsten dar.
Beim Sturz Heinrichs des Löwen im Jahre 1180 werden seine beiden Herzogtümer Sachsen und Bayern zerschlagen; damit geht das Zeitalter der Stammesstaaten endgültig zu Ende. An die Stelle des Stammesherzogtums Bayern treten die neuen „Gebietsherzogtümer“ Bayern, Österreich, Kärnten und Steiermark; damit bahnt sich im Südosten des Reiches die Entwicklung vom „Personenverbandsstaat“ zum „institutionellen Flächenstaat“ an. 1180 stellt auch insofern ein Epochenjahr dar, als damals der größte Teil der heutigen Republik Österreich aus dem bayrischen Stammesverband herausgelöst wird, Bayern und Österreich haben seither jeweils eine eigene politische Entwicklung genommen.
3. Ausgewählte Länder und Regionen
A. Norddeutscher Aufbruch (Herzogtum Sachsen)
Kurz vor seinem Tod bestimmt der erste deutsche König Konrad I., der politisch auf ganzer Linie gescheitert ist, seinen erbittertsten Gegner, Herzog Heinrich von Sachsen, zu seinem Nachfolger – ein bewundernswerter Akt menschlicher Größe und politischer Weitsicht, denn Heinrich ist nicht nur der mächtigste aller Stammesherzöge, sondern auch ein außerordentlich fähiger Herrscher (919–936). Mit seiner Wahl verlagert sich der Schwerpunkt der deutschen Geschichte nach Norddeutschland; zugleich beginnt ein jahrzehntelang anhaltender Aufstieg des Reiches, dessen staatlicher Zusammenhalt soeben noch am seidenen Faden gehangen hat.
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