Im Halbschlaf sah er es jetzt vor sich. Seine Mutter schwebte aus dem Grab herauf. Doch sie trug nicht das rotgrün gemusterte Kleid, sondern ein zerdrücktes pfirsichfarbenes Nachthemd, ihre Augen waren geschlossen, ihr goldglänzendes toastfarbenes Haar filzig und plattgedrückt von Erdklumpen. Erde krümelte aus ihren leeren Augenhöhlen, und dann sah Orvil mit Entsetzen, wie ein Stück von ihrem Gesicht abfiel und in der Spalte zwischen ihren Brüsten verschwand – es war ihre Nase, die ihr abgefault war!
»O Darling! O Darling!«, rief er. Er wußte nicht, wie er das Grauen dieses immer wiederkehrenden Angsttraums ertragen sollte. Immer sah er, wie sie krampfhaft versuchte, sich aus dem Grab zu befreien. Bis ihm wieder einfiel, daß sie ja eingeäschert worden war. Und dann sah er ihren halb verkohlten Leib in den Flammen und hörte sie gellend schreien.
Er erinnerte sich an den Nachmittag, als sie ihn mit ihrer Haarbürste geschlagen hatte. Sie hatte ihn durchs ganze Badezimmer gejagt und schließlich unter dem hellblauen Waschbecken zu fassen bekommen, und dann hatte sie begonnen, heftig auf ihn einzuschlagen. In ihrem Zorn vergaß sie, die Bürste umzudrehen. Sie schlug blindlings auf ihn ein, und er spürte, wie ihm die Borsten in die Haut stachen. Als sie erneut zuschlug, versuchte er, sich zu wehren. Plötzlich stolperten sie mitten im Badezimmer im Kreis, rissen einander an den Kleidern und fuchtelten wütend mit den Fäusten. Fast war ihnen jetzt nach Lachen zumute, doch der Zorn war stärker.
Am Abend, als sie einander verziehen hatten und sie zu ihm ins Bad kam, um ihm den Rücken zu schrubben, machte er sich steif und wollte sich nicht umdrehen. Sie sollte nicht die purpurnen Male der harten Borsten auf seinem Hintern sehen.
Die Tür wurde leise geöffnet, und Ben kam herein. In seinem Halbschlaf dachte Orvil für einen Augenblick, ein gutaussehender Fremder habe aus Versehen die falsche Tür geöffnet, denn Ben trug seine Uniform mit den blanken Messingknöpfen, und sein weißblondes Haar schimmerte wie Fischleim.
Ben legte sich neben ihn auf das Bett und begann zu erzählen. Orvil hörte, wie draußen Wassertropfen in großen Abständen aus der verstopften Dachrinne nach unten auf die Steinplatten fielen. Er lauschte und wartete, bis es wieder plop machte, und er hörte nur mit halbem Ohr auf die Geschichten, die sein Bruder vom Leben im Camp erzählte.
Ben berichtete von den Ölsardinen, die ranzig und schlecht geworden waren, weil man die Dosen schon Stunden vor dem Abendessen aufgemacht hatte; von dem Jungen, den man bewußtlos unter seinem zusammengefallenen Zelt hervorzog; von den Burschen, die Schweißfüße hatten und die ganze Nacht schnarchten; von den aufregenden Nachtübungen, wo man stundenlang dicht an dicht in dunklen Schützengräben lag. Die letzte Geschichte handelte von einem armen Kerl, den sie mit einem schweren Kochlöffel so lange auf den Kopf schlugen, bis ihm hellgrüner Schleim aus dem Mund lief.
Ben lachte glucksend in sich hinein und genoß seine Schauergeschichten in vollen Zügen. Er war ein gutherziger Mensch, doch er konnte sich nur so richtig freuen, wenn er von wüsten Dingen erzählte.
Jetzt hielt er die Hand hoch. An einem Fingernagel war die Nagelhaut aufgerissen.
»Was kann ich dagegen tun?«, fragte er. »Es zieht und schmerzt jedesmal, wenn ich etwas anfasse.«
Orvil sah es sich an. Es schien ihm eine recht geringfügige Verletzung zu sein.
»Am besten, wir fragen Daddy, was da zu tun ist«, sagte er gleichgültig.
Sie standen auf und gingen hinunter zum Tee. Anschließend ging Mr. Pym mit ihnen in eine Apotheke und ließ sich für Ben eine Nagelsalbe geben. Orvil fühlte sich noch leicht benommen von dem verschlafenen Nachmittag, und als ein Lippenstift vom Ladentisch rollte, bückte er sich und steckte ihn ein, noch ehe ihm recht bewußt wurde, was er tat.
Als sein Vater ihn fragte, was da heruntergefallen sei, gelang es ihm, leichthin zu sagen: »Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, es war ein Lippenstift. Er ist direkt unter den Ladentisch gerollt.« Im Hinausgehen sah er aus den Augenwinkeln, wie die Verkäuferin auf allen vieren um den Ladentisch kroch und darunter herumtastete.
Im Foyer des Hotels sah ein drahtiger Mann mit Hakennase von seiner Zeitung hoch, stand auf und kam ihnen mit ausgestreckter Hand entgegen.
»Hallo, Pym!«, sagte er. »Was für eine nette Überraschung!«
Mr. Pym kannte den Mann aus Fernost. Es war eine flüchtige Bekanntschaft, und sie hatten einander seit Jahren nicht mehr gesehen, doch jetzt schüttelten sie einander sehr freundschaftlich die Hand.
Auch der Mann, wie sich herausstellte, war nach Salisbury gekommen, weil sein Sohn im O. T. C. Camp war. Sein Vaterstolz war so übertrieben, daß er lächerlich wirkte. Aufgeregt erzählte er eine kleine Anekdote nach der anderen. Er verdrehte die Augen und zeigte sein hübsches neues schneeweißes Gebiß. Er schilderte die wagemutigen Taten seines Sohnes und hob immer wieder dessen attraktive Erscheinung hervor. Abschließend sagte er in einem humorvollen Cockney-Akzent, der jedoch die Ernsthaftigkeit der Bemerkung nicht überdecken konnte: »Ich sollt’ vielleicht nicht damit angeben, aber Jim ist einfach ein bemerkenswert prächtiger Bursche.«
Orvil fand das sehr erstaunlich. Er hatte nie gedacht, daß Väter imstande wären, über ihre Söhne anders als mit kühler Nachsicht oder einigem Unmut zu reden. Er war plötzlich neidisch auf diesen unbekannten Jim, und um das Gefühl loszuwerden, sagte er sich, daß das Getue des Mannes alle beide recht lächerlich aussehen ließ.
Sie verabschiedeten sich jetzt, um in den Speisesaal zu gehen, und als sie die Tür erreichten, geschah das, was Orvil die ganze Zeit erwartet hatte – der Mann wandte sich noch einmal an Mr. Pym und sagte hastig: »Ach übrigens, es hat mir schrecklich leid getan, als ich hörte, daß Ihre –«
Mr. Pym brachte ihn abrupt zum Schweigen, ehe er es aussprechen konnte.
»Es war am besten so«, sagte er mit Nachdruck. »Sie hätte sonst als hilfloser Krüppel weiterleben müssen, und Sie können sich wohl denken, was sie davon gehalten hätte.« Er sagte es in einem merkwürdig anzüglichen und gemeinen Tonfall. Der Mann verdrückte sich daraufhin mit hochrotem Gesicht und wünschte sich wohl, er hätte sich nicht zu dieser Bemerkung gezwungen, die ohnehin nicht aufrichtig gemeint war.
Ein sehr altmodischer Kellner mit Plattfüßen und schütterem Haar geleitete sie an einen Tisch. Er hatte eine fettige Serviette über dem Arm. Orvil betrachtete ihn wie ein Fossil im Museum. Er wollte nicht daran denken, daß es ein Mensch war, sonst hätte ihm das Essen nicht mehr geschmeckt. Etwas unendlich Unglückliches quoll aus dem Kellner in Wellen heraus, und Orvil stemmte sich dagegen und versuchte, sich auf die Speisekarte zu konzentrieren.
Ben ließ sich ein Bier bringen. Eigentlich hätte er lieber einen Whisky Soda getrunken, doch er sagte sich, daß das für einen Jungen von siebzehn Jahren dumm und anmaßend wäre. Er hatte einen ausgeprägten Sinn für das, was sich schickte, und daran hielt er sich eisern.
Nach dem Essen gingen sie hinaus zum Wagen. Orvil setzte sich nach vorn zum Chauffeur, der sehr mürrisch und verärgert war. »Aber wollen Sie denn nicht auch das ›Tattoo‹ sehen?«, fragte er, um ihn ein bißchen aufzutauen.
»Alles schön und gut, aber ich hatte etwas anderes vor«, sagte der Chauffeur mit wichtiger Miene. Er hatte bisher jeden Abend freigehabt, um in den Pubs zu trinken und Frauen aufzugabeln. Auf diese liebe Gewohnheit mußte er nun verzichten und trauerte seiner verlorenen Freiheit nach. Den Frauen von Salisbury würde es an diesem Abend versagt bleiben, seine Bekanntschaft zu machen, es sei denn, er konnte beim ›Tattoo‹ eine finden. Nun, vielleicht würde er Glück haben. Er stellte sich vor, mit ihr im Gras zu liegen und die nassen Halme unter den Händen zu spüren und sein verschwitztes Gesicht darin zu kühlen.
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