Orvil sah ihn von der Seite an und dachte an die Mädchen in Liebesromanen, die mit dem Chauffeur ihres Vaters durchbrannten. Er konnte verstehen, was daran so reizvoll war. Es hatte nicht soviel mit dem Chauffeur selbst zu tun (dieser hier zumindest war fleischig und rosig wie ein Schwein) – nein, es war der Rausch der Geschwindigkeit; die Uniform, die einem das Gefühl gab, von einem mysteriösen Offizier einer fremden Armee entführt zu werden; das Abenteuer, mit einem Mann allein zu sein wie auf einer einsamen Insel; und das berauschende Gefühl, einem langweiligen behüteten Leben zu entrinnen.
Der Wagen hielt, und sie mußten eine Weile im Dunkeln durch morastiges Gelände irren, bis sie die Zuschauertribüne erreichten und ihre Plätze einnehmen konnten.
Das Tattoo hatte noch nicht begonnen. Nur ein einziger Scheinwerfer war eingeschaltet, und in seinem Lichtkegel stand ein korpulenter Mann, der die Zuschauer zum Singen animierte. Er ruderte mit den Armen, und der Schweiß lief ihm über das Gesicht. Aus der großen Menschenmenge kam nur ein schwaches Echo. Der Mann verausgabte sich, als sei er von Sinnen, und wenn er den Oberkörper zurückbeugte, quoll sein Bauch so stark hervor, daß es aussah, als werde er gleich platzen. Orvil stellte sich vor, wie ihm die dampfenden Eingeweide heraushängen würden, und er erschauerte bei dem Gedanken an den scheußlichen roten Fleck, der sich auf Hemd und Hose des ganz in Weiß gekleideten Mannes ausbreiten würde. Der Bauch schwang wie eine riesige pralle Schweinsblase bedenklich hin und her. Der Mann hatte sich das Hemd fast bis zum Nabel aufgeknöpft, und die schwabbeligen Fettwülste um die Brustwarzen hüpften auf und nieder wie die Brüste eines jungen Mädchens. Wenn der Mann eine ausholende Bewegung mit den Armen machte und das Hemd weit auseinanderklaffte, konnte Orvil sie deutlich sehen. Wie zwei Portionen Pudding oder Götterspeise, die plötzlich lebendig wurden. Orvil fand den Anblick so lustig und grotesk, daß er fast herausgelacht hätte.
Jetzt ertönten dumpfe Trommelschläge, und der Gesang brach ab. Scheinwerfer gingen an und leuchteten eine Ecke des großen Platzes aus.
Zuerst konnte Orvil nichts erkennen, doch dann sah er aus der Dunkelheit eine weiße Ziege auftauchen. Sie bekam in den Strahlen der Scheinwerfer eine gespenstisch grünliche Färbung, und hinter ihrer winzigen Gestalt wogte ein gewaltiger Aufmarsch von Musikzügen heran.
Orvil fand, daß er selten ein so überwältigendes Schauspiel gesehen hatte. Er konnte sich nicht sattsehen an den stattlichen Tambourmajoren, die ihre silberglänzenden Stäbe in die Luft warfen, und an den Gladiator-Gestalten in Leopardenfellen mit ihren umgehängten Baßtrommeln, die so groß wie Wagenräder waren. Der Marschtritt und die rhythmischen Klänge brandeten über den weiten Platz heran. Es war ein berauschendes Erlebnis. Vorneweg trippelte diese gespenstische kleine Ziege, deren weiße Mähne im Winde wehte, und Hunderte von Männern in protzigen scharlachroten Uniformen mit goldenen Tressen und Pelzmützen schritten folgsam hinter ihr her.
Beim Anblick dieses Schauspiels mußte Orvil unwillkürlich an die üblen Witze denken, die sich die Jungs im Internat so oft mit Ziegen leisteten. Immer wieder dachten sie sich groteske Vorfälle aus, in denen es um Ziegen ging. Und jetzt stellte er sich plötzlich vor, die Ziege auf dem großen Platz werde von dem ganzen Regiment schändlich mißbraucht – sie waren alle verrückt geworden, sie schändeten ihr Maskottchen und würden es zertrampeln, bis es tot am Boden lag.
»Nicht daran denken, nicht daran denken«, sagte er sich verzweifelt, doch es gelang ihm nur mit Mühe, sich wieder auf die wirkliche Szene vor seinen Augen zu konzentrieren.
Die Musikzüge marschierten jetzt aus dem Lichtkegel. Abrupt schwangen die Scheinwerfer herum und illuminierten die andere Seite des Platzes. Man sah eine schlammfarbene Stadtmauer mit Tor. Seltsame Gestalten in arabischen Gewändern ließen sich von der Mauer fallen, als seien sie von Kugeln getroffen worden. Andere versuchten einen Ausbruch, doch auch sie fielen bald um und wälzten sich schreiend am Boden. Die britischen Truppen mit ihren viktorianischen Helmen rückten unaufhaltsam vor. Weiße Rauchwölkchen aus ihren Flinten hingen wie kleine Wattebäusche in der Luft. Die Sieger stießen Schlachtrufe aus und johlten. Die Besiegten krochen im Staub und winselten um Gnade.
Als alles vorüber war und sie Ben in der Nähe seines Lagers abgesetzt hatten, wandte sich Orvil an den Chauffeur.
»Wie hat es Ihnen gefallen?«, fragte er.
»Danke, wirklich sehr gut«, kam die glatte höfliche Antwort.
Orvil betrachtete das grobe Profil des Chauffeurs. Dieser schien jetzt wieder ganz zufrieden zu sein, und nach einer Weile sagte er in scherzhaftem Ton: »Also diese kleine Ziege sah wirklich niedlich aus, Mister Orvil.« Das ›Mister‹ überraschte Orvil. Der Chauffeur hielt es mehr mit demokratischen Umgangsformen, und wenn er schlechtgelaunt war, unterließ er es sogar recht oft, Mr. Pym mit ›Sir‹ anzureden.
Schweigend saß Orvil neben ihm, schon ganz in Gedanken an den nächsten Tag und ihre Ankunft in dem Hotel, wo sie den Rest der Ferien verbringen sollten.
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