Bei seinem letzten Besuch hatte er das altmodische Rasiermesser entdeckt und einen jener Apparate, die Cricketspieler unter der Hose tragen, um ihre Weichteile zu schützen. Er hatte sich gewundert, daß jemand auf die Idee gekommen war, so etwas bei seiner Tante abzugeben. Es mußte wohl eine Frau gewesen sein, die nicht wußte, wozu der Gegenstand diente. Er selbst hatte es auch nicht gewußt und erst einen seiner Lehrer danach fragen müssen.
Er war mit den beiden Dingen nach unten in sein Zimmer gerannt und hatte den ausgebeulten Lederschutz angelegt. Er war ihm viel zu groß und fühlte sich an wie eine harte Hand zwischen seinen Schenkeln. Das Ziegenleder war blankgescheuert und schwarz von Schweiß. Er hatte sich damit vor den Spiegel gestellt und mit dem alten Rasiermesser den Flaum von der Oberlippe geschabt.
Dann, ohne den Lederschutz abzunehmen, hatte er sich angezogen und war nach unten gegangen. Im Gespräch mit seiner Tante und seinen Vettern hatte er ein heimliches Gefühl der Erregung und Befriedigung gespürt und sich sehr sicher und überlegen gefühlt.
Das Rasiermesser hatte er mit ins Internat genommen und während des letzten Schuljahrs zweimal benutzt – in der Toilette im Obergeschoß, die als einzige eine abschließbare Tür hatte. Er hatte sich auf den Toilettensitz gestellt und das Rasiermesser in den Wasserkasten getaucht, und dann hatte er sich rasiert, wobei er mit einem nassen Finger erst sorgfältig an der Oberlippe entlangstrich, ehe er das Rasiermesser ansetzte.
Jetzt, als er sein Gesicht im Spiegel betrachtete, überlegte er, ob er sich schon wieder rasieren sollte. Er hatte Angst, daß die Härchen durch ständiges Rasieren stärker und dicker würden. Andererseits bereitete es ihm jedesmal Vergnügen, wenn er sie abrasierte. Er beschloß, es an diesem Morgen sein zu lassen. Er sagte sich, daß das bißchen Flaum keinem auffallen würde.
Er versuchte sich auch einzureden, daß niemand die schwarzen Ringe unter seinen Augen bemerken würde. Im Spiegel waren sie allerdings so überdeutlich, daß er kaum sein übriges Gesicht sah. Die Boys im Internat hatten ihn gelegentlich damit aufgezogen und ihn mit einem beziehungsvollen Unterton gefragt: »Du siehst heute morgen wieder so mitgenommen aus, Pym – was hast du denn wieder getrieben?«
Er wußte, worauf sie anspielten, und er zitterte jedesmal vor rechtschaffener Empörung. Er konnte gegen die Ringe unter seinen Augen einfach nichts tun. Seine Ängstlichkeit und Aufgeregtheit hielt ihn nachts oft wach. Hinzu kam, daß er empfindliche Augen hatte, die sehr rasch ermüdeten.
Er hoffte, daß andere dies erkennen würden, wenn ihnen die Ringe auffielen. Nicht auszudenken, wenn auch sie so argwöhnisch und verdorben wären wie die Boys im Internat …
Orvil nahm sein Handtuch und machte sich auf den Weg zum Badezimmer am hinteren Ende des Flurs. Neben der Tür hing ein Münzautomat, aus dem man verschiedene Sorten Pillen und Tabletten ziehen konnte: Aspirin, Chinin, Cascara Sagrada. Er hatte jetzt Geld, denn am Tag zuvor hatte sein Vater all sein Kleingeld hervorgeholt und ihm in die Hosentasche gesteckt, als sie dicht nebeneinander im Fond des Wagens saßen. Orvil, schläfrig von der monotonen Fahrt, war nervös zusammengezuckt, als fürchte er eine unsittliche Berührung. Doch dann hatte er die harten Münzen gespürt, die gegen seinen Schenkel drückten.
Er ging zurück in sein Zimmer und holte sich drei Sixpence-Stücke. Er steckte sie nacheinander in die drei Schlitze und nahm unten die kleinen Schachteln heraus. Während er das Wasser einließ und der Raum sich mit Dampf füllte, las er sich die Instruktionen durch. Dann nahm er aus jedem Röhrchen eine Tablette ein und räkelte sich in seinem Badewasser. Bald danach fühlte er sich besser – sehr friedlich und wohlig.
Nach dem Frühstück verirrte er sich auf dem Rückweg zum Zimmer. Im Gewirr der Korridore stieß er schließlich auf ein Zimmermädchen. Die kleine adrette Person machte einen netten Eindruck und wirkte intelligent und sehr fraulich. »Haben Sie sich verlaufen, Sir?«, fragte sie mitfühlend. Es war ein angenehmes Gefühl, mit ›Sir‹ angeredet zu werden. Doch zugleich fühlte er sich ertappt und beschämt. »Ja«, sagte er, »ich muß irgendwo falsch abgebogen sein.«
»Dieses alte Haus ist ein richtiges chinesisches Puzzle, nicht?«, sagte sie und lachte. Orvil fand das eine sehr einfallsreiche und gescheite Bemerkung. Er hatte den Ausdruck ›chinesisches Puzzle‹ noch nie gehört. Plötzlich sah er das Hotel als ein schreckliches Labyrinth, in dem irgendwo im Dunkeln der Minotaurus auf ihn wartete.
An diesem Tag fuhren sie nach Salisbury. Ben, Mr. Pyms zweitältester Sohn, war außerhalb der Stadt in einem Ausbildungslager des Officers’ Training Corps seiner Schule.
Sie hielten vor einem Hotel und ließen ihr Gepäck hineinbringen. Dann fuhren sie aus der Stadt. Mr. Pym sagte dem Chauffeur, er solle fahren, bis er weiße Zelte sehe. Orvil entdeckte sie als erster. Der Chauffeur fuhr darauf zu, mußte aber feststellen, daß er die Landstraße nicht verlassen konnte: Der Feldweg, der zum Camp führte, war völlig aufgeweicht und bestand nur noch aus Schlamm.
Mr. Pym und Orvil stiegen aus und begannen schweigend durch den Schlamm zu stapfen. Sie fühlten sich etwas schuldbewußt, doch zugleich waren sie auch froh, daß sie dieses Lagerleben nicht ertragen mußten. Obwohl etwas in ihnen sich doch heimlich danach sehnte.
Plötzlich kam ihnen Ben entgegen. Er war sehr verschwitzt und schlecht gelaunt, bot aber dennoch eine stattliche Erscheinung. Er war offensichtlich im Dienst, denn er trug verdreckte Arbeitshosen und schleppte zwei randvolle Bottiche aus der Latrine, die er bei jedem Schritt wütend überschwappen ließ. Als er seinen Vater und Orvil erblickte, setzte er die Bottiche mit einem Ruck ab und stand einen Augenblick entgeistert da. Dann lachte er laut heraus, und die Situation war gerettet. Die anderen beiden liefen auf ihn zu, um ihn zu begrüßen, doch er hob abwehrend die Hände und rief: »Kommt mir nicht zu nahe, sonst fallt ihr in Ohnmacht.«
Der Gestank aus den Bottichen war in der Tat überwältigend. Orvil fühlte sich merkwürdig hin- und hergerissen zwischen Ekel und Faszination. Er hätte am liebsten mit einem Stecken in der Brühe herumgerührt, die Kotklumpen aufgespießt und hoch in die Luft geworfen. Doch sein zweites Ich – ein sehr feminines, auf Reinlichkeit bedachtes Ich – wehrte sich heftig gegen eine solche Vorstellung und gab ihm sogar ein, daß sein frischer, sauberer, gutaussehender Bruder nun für immer mit einem Makel behaftet sein würde, nie mehr zu trennen von dem ekelhaften Zeug, mit dem er hier umging.
Mr. Pym vereinbarte mit Ben, daß dieser nach Salisbury kommen solle, wenn sein Dienst vorüber war. Nach einem gemeinsamen Abendessen würden sie dann alle zum ›Searchlight Tattoo‹ gehen.
Orvil sah sich noch einmal um nach seinem geliebten Bruder, der unter seiner schmutzigen Hülle immer noch so charmant und weiß und sauber wirkte. Mit zorniger Beharrlichkeit versteifte er sich darauf, wie gut sein Bruder aussah, um das Bild von ihm auszulöschen, wie er diese beiden Bottiche schleppte.
Im Hotelzimmer legte sich Orvil auf das Bett und versuchte, ein wenig zu schlafen. Die Cascara-Sagrada-Pille hatte zu wirken begonnen, und überdies fühlte er sich niedergeschlagen und elend. ›Wenn ich doch nur sterben könnte!‹, dachte er. Oder wenn er nur frei und unbeschwert sein könnte, aber zugleich mit allen Rechten eines Erwachsenen. Mit ein bißchen Geld, einem kleinen Zimmer und mit einer Arbeit, die ihm Freude machte. Wenn doch nur seine faszinierende Mutter mit dem sonnengebräunten Teint aus ihrem Grab auferstehen und zu ihm zurückkommen könnte, in ihrem merkwürdig unansehnlichen rotgrün gemusterten Tartankleid mit dem glänzenden Gürtel, den sie im Modegeschäft einer Bekannten gekauft hatte. Wenn er ihr die Ringe wieder über die Finger streifen könnte und ihre Augenbrauen nachziehen mit der winzigen schwarzen Bürste, wie er es immer so geschickt getan hatte.
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