Helena steht auf und atmet tief durch. Jetzt wird sie dem Onkel ein für alle Mal klar machen müssen, dass sie nicht gedenkt zu heiraten. Und dass sie keine Lust hat, ihn noch weiter in die Synagoge zu begleiten. Ja, sie wird ehrlich mit ihm sein. An Kazimierz erinnert sie sich gern, sie hat als Kind in der Synagoge andächtig den Gesängen gelauscht. Auch die stille Frömmigkeit der Eltern konnte sie von Herzen respektieren. Doch als sie heranwuchs, hat sie festgestellt, dass etwas in ihr gegen Gott und Glauben aufbegehrte. Das muss sie dem Onkel erklären. Und sie tut es. Der Onkel schaut sie lange an.
„Kind, du machst dich unglücklich. Kein Glaube. Kein Mann. Wo soll das enden?“
„Wenn es einen Gott gibt“, sagt Helena, „dann hat er mich so gemacht, wie ich bin. Ohne Verlangen nach Gebet und ohne Verlangen nach Ehe. Auch ich bin sein Werk. Das solltest du anerkennen!“
Der Onkel schüttelt empört den Kopf. Er denkt weiter. Wenn die Nichte sich weigert, einen Mann zu nehmen, wird sie ihm zur Last fallen. So war das aber nicht gedacht. Er kann sie nicht ewig durchfüttern. Außerdem vermindert eine junge Frau im Haus seine Chancen auf eine Wiederverheiratung. Er wird mit Bruder Louis darüber reden müssen.
Der andere Onkel, der aus Merino, ist auch Schafzüchter. Er versucht, seiner Nichte das Reiten beizubringen. Talentiert, das sieht er gleich, ist sie nicht. Als er jetzt von Bernhard hört, wie renitent sie außerdem ist, sieht er sie mit anderen Augen. Im Pferdestall tritt er hinter sie und greift ihr mit beiden Händen an die Brust. Helena erstarrt. Dann dreht sie sich um, holt aus und schlägt dem Onkel mit ihrem Sonnenschirm nach Kräften auf den Kopf. Und stürzt davon. Ein Ochsenkarren nimmt sie mit zurück nach Coleraine. Der Mann auf dem Bock fragt nicht, und so kann Helena in Ruhe heulen.
Lange hat sie es nicht verspürt, und nun kommt es doch: das Heimweh. Wie rau, hart und brutal ist diese Welt, wie ungehobelt sind die Menschen. Da war doch das glänzende Wien etwas ganz Anderes, selbst Krakau besaß urbanes Flair im Vergleich zu Coleraine. Und die Menschen hatten Manieren. Großmutter Rebecca würde im Boden versinken, wenn sie erführe, was ihr Sohn Louis sich herausgenommen hat! Die Briefe, die Helena nach Hause schreibt und die sie von dort empfängt, trösten sie nicht mehr, sie denkt an Heimkehr. Aber wie würde sie sich fühlen daheim in Krakau, wenn sie bei den Ihren auf der Schwelle stünde – eine Verliererin, die es in der weiten Welt zu nichts gebracht hat? Nein, sie kann nicht zurück. Sie sieht ihre Schwestern vor sich, eine Hochzeit ist in Vorbereitung, die Mutter ganz aufgeregt. Bald wird sie die ersehnten Enkel wiegen – und ihre Älteste wird vergessen sein. Vergessen? Helena, allein im Geschäft und mit Abrechnungen beschäftigt, fühlt Tränen aufsteigen. Sie ist immer tapfer gewesen, all die Jahre in der Fremde, aber jetzt verlassen sie die Kräfte.
Da kommt eine Kundin in den Laden, eine Frau aus der Nachbarschaft. Helena putzt sich die Nase und winkt kurz mit der Hand.
„Hallo“, grüßt die Kundin und tritt näher. „Darf ich … darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?“
„Nur zu.“
„Was tun Sie, meine Liebe, dass Sie eine so wunderbar faltenfreie, helle Haut haben?“
Helena lächelt. „Ich meide die Sonne, benutze einen Sonnenschirm oder trage einen Hut. Wenn Sie da drüben mal schauen wollen. Wir haben eine große Auswahl. Der rote dort müsste Ihnen passen.“
Die Dame probiert den Hut und nickt. Sie zahlt und geht, und als sie an der Tür steht, ruft Helena: „Bitte kommen Sie morgen wieder. Ich habe noch etwas anderes für Sie.“
Von den zwölf Dosen mit Lykusky-Creme hat Helena noch einige übrig. Ihr kommt die Idee, diese Creme im Geschäft anzubieten, damit die Bewohnerinnen von Coleraine nicht länger Gesichter haben wie Seemänner und mit dreißig ausschauen wie fünfzig. Sie schließt den Laden und geht schnellen Schrittes heim. Ihre Cremedosen hat sie kühl gestellt – in Onkel Bernhards Keller. Lykuskys Wundermittel ist ergiebig, ein Tiegel langt für viele Monate. Wenn Helena den Inhalt der restlichen Dosen auf viele kleinere Töpfchen verteilt, hat sie noch ein ordentliches Angebot, das sie ins Schaufenster stellen und mit Preisschildern versehen kann. Wäre doch gelacht, wenn die Kundinnen nicht zuschlügen und Helena zu einem kleinen Extraverdienst verhülfen. Und tatsächlich, es spricht sich schnell herum, dass es bei Silberfeld etwas Besonderes zu kaufen gibt. Bald sind die Cremetöpfe ausverkauft. Helena ist es zufrieden. Und sie hat einen Plan.
Ich werde damit weitermachen, sagt sie zu sich. Ich werde Mutter bitten, mir noch mehr Dosen zu schicken. Aber wie lange wird es dauern, bis das Paket hier ist? Drei Monate? Und wenn ich es selbst versuche? Mir in der Apotheke von Sandford die Ingredienzien besorge und die Creme selbst anrühre? Ja, das könnte gehen. Mit der Mutter hat sie einmal darüber gesprochen, woraus die Creme denn wohl bestehe, sie weiß also, was sie zu besorgen hat. Zu der Apotheke im Nachbarort fährt der Onkel von Zeit zu Zeit, um sich ein Pflaster gegen Rückenschmerzen zu besorgen, dann nimmt er Helena mit. Mr Henderson, der Inhaber, ist ein freundlicher alter Mann, immer zu Scherzen aufgelegt. Ja, sie wird bei ihm einkaufen und die Creme selbst herstellen. Die Nachbarin war neulich schon wieder im Laden und wollte eine Dose als Geburtstagsgeschenk für ihre Schwester. Und es war keine mehr da. Helena weiß: Der Absatz wird nicht das Problem sein. Allein die Zufuhr. Wenn es ihr gelingt, die Creme selbst herzustellen, könnte sie irgendwann so weit kommen, sich mit einem Laden selbständig zu machen. Ihr schwindelt ein wenig, zugleich aber empfindet sie eine große Erleichterung und sogar Freude, denn endlich sieht sie vor sich einen Weg. Und der führt sie – nach Melbourne! Dort ist sie einst an Land gegangen und hat sich vor der Weiterfahrt nach Coleraine ein wenig umgeschaut. In Melbourne gibt es Leute, die gut aussehen wollen – wie in Wien. Schafe hat sie dort keine gesehen, dafür die neueste Mode. Helena hat ein Ziel.
Ihre Versuche, in des Onkels Küche eine Creme zu produzieren, schlugen indes fehl. Entweder war die Mischung aus Ölen, Kräutern, Wasser und Parfum zu flüssig oder zu fest, auch wollten sich die Bestandteile nicht recht verbinden, und Helena gab auf. Ich brauche mehr Wissen über Chemie, dachte sie. Und wer ihr da weiterhelfen konnte, war niemand anders als Mr Henderson. Wie der Alte in seinem weißen Kittel zwischen den Pülverchen und Pastillen hantierte, wirkte er sehr kompetent, und Helena hatte auch nie eine Hilfskraft in den nach Eukalyptus duftenden Räumen bemerkt. Ob er womöglich …? Bei der nächsten Gelegenheit bat sie ihn geradeheraus um eine Anstellung. Der Apotheker sah sie zweifelnd an und fragte: „Was sagt denn der Onkel dazu?“, doch Helena glaubte zu bemerken, dass er die Idee gut fand.
Als sie ihm ihr Leid mit den Inhaltsstoffen der Creme klagte, die sich nicht vermischen wollten, lachte er und dozierte:
„Emulsionen sind eine Wissenschaft für sich. Öl und Wasser stoßen sich ja ab – wie kriegt man es also hin, sie so zu mischen, dass eine glatte Konsistenz dabei herauskommt? Wenn Sie bei mir anfangen wollen, Miss Rubinstein, kann ich es Ihnen zeigen.“
Onkel Bernhard wurde von Helena vor vollendete Tatsachen gestellt. Eigentlich wollte er erst einmal an Vater Rubinstein schreiben, hatte auch, wie er zugab, einen weiteren Heiratskandidaten an der Hand, aber Helena war jetzt nicht mehr aufzuhalten. Von Onkel Louis’ Übergriff hatte sie noch nichts erzählt, sie war aber entschlossen, damit rauszurücken, wenn Onkel Bernhard sich ihr in den Weg stellte. Doch was sollte der machen – er ließ sie ziehen.
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