Ihre Eltern taten es auch nicht. Hertzel und Gitel wussten: Die Tochter hatte keinen Beruf gelernt. Und sie war ohne Mitgift. Sämtliche Bewerber um ihre Hand hatte sie brüsk zurückgewiesen. Sie war praktisch nicht vermittelbar, weder auf dem Heirats- noch auf dem Arbeitsmarkt. Für eine junge Frau in ihrer Lage war Auswandern sehr wohl eine Möglichkeit, die sie und auch ihre Familie das Gesicht wahren ließ – es war eine Notlösung. Chaja hatte keine Ahnung, was sie auf dem fernen fünften Kontinent erwartete, sie war jedoch willens und bereit, ein neues Leben anzufangen. Ihre Mutter verkaufte eines ihrer letzten Schmuckstücke und schickte der Tochter das Geld nach Wien – mitsamt zwölf Tiegeln ihrer kostbaren Gesichtscreme nach dem Rezept des Jakob Lykusky. Die Splitters, Silberfelds und Rubinsteins, die Großeltern, weitere Verwandte und Bekannte gaben Geld für die lange Überfahrt. Damit kam Chaja als allein reisende Frau in der Kabinenklasse unter, was jeden Zweifel an ihrer Ehrbarkeit zerstreute. Sie packte abermals ihre Sachen, auch das weiße Faltenkleid kam in den Koffer, die Schuhe mit den hohen Absätzen, der Pelzkragen – ein Geschenk von der Tante – und der Sonnenschirm. Zunächst ging es per Zug nach Genua und von dort mit der Prinzregent Luitpold , einem Reichspostdampfer der Bremer Reederei Norddeutscher Lloyd, durch den Suezkanal über den Indischen Ozean nach Australien, in den Hafen von Melbourne.
Auf dieser Reise, die insgesamt drei Monate dauert, da das Postschiff auf großer Fahrt öfter anlegt, etwa in Neapel, Alexandria, Aden und Bombay, lernt Fräulein Rubinstein drei junge Männer kennen, die ihr sogar Heiratsanträge machen: zwei kleine Italiener, mit denen sie sich überhaupt nicht verständigen kann, und einen schnauzbärtigen Engländer. Ihre Deutschkenntnisse, so fragmentarisch sie sind, ermöglichen ihr den Kontakt zu Schweizern, Österreichern und Deutschen. Sie ist beliebt unter den Passagieren, man unterhält sich gern mit ihr. Aber man rätselt. Was ist das für ein Mädchen, das da ohne Anstandsdame im Schlepptau reist? Meist sind es leichtlebige Tänzerinnen oder Prostituierte, die ohne Begleitung unterwegs sind – auf der Flucht vor wem auch immer. Oder einsame Frauen, die mehr oder weniger verzweifelt einen Mann suchen. Dieses Fräulein namens Helena Rubinstein aber ist weder das eine noch das andere. Sie ist allein, aber sie kann sich behaupten. Ihr eignet eine gewisse Unnahbarkeit, etwas Resolutes, ja fast Gebieterisches.
Helena? Ja, die junge Frau nutzt die Gelegenheit, sich fern der Heimat und der sozialen Kontrolle gänzlich neu zu erfinden. Ein neuer Name ist da sehr hilfreich. Helena Rubinstein , mit diesem Namen hat sie sich in die Passagierliste eingetragen, damit ersetzte sie den hebräischen Namen Chaja, der strahlendes Leben bedeutete, durch das griechische Helena, das dieselbe Bedeutung hat. Sie spricht es seltsam aus, mit polnisch-jiddischem Akzent. Helena ist in der griechischen Mythologie die schönste Frau ihrer Zeit. So schön, dass jeder Mann sie besitzen möchte. Doch die schöne Helena aus Krakau ist nicht auf Männerjagd. Soll sie sich etwa Gefahren wie Schiffbruch, Unfall und Krankheit aussetzen, nur um schließlich im Hafen der Ehe zu landen? Doch sie fällt nicht nur auf, weil sie allein unterwegs ist. Sie ist schon auch eine besondere Erscheinung. Wegen ihrer geringen Größe hält man sie trotz ihres Alters für ein junges Mädchen, obwohl ihre weiblichen Rundungen ausgeprägt sind. Aus praktischen Gründen und wohl auch, weil sie es von der Mutter kennt, bindet sie die Haare zu einem Chignon, das lässt sie strenger wirken. Meist trägt sie ein Kleid mit Stiefeletten, einen Spitzenkragen und einen Sonnenschirm. Ihre Haut ist zart und hell wie Porzellan, diesen blassen Teint schützt sie sorgfältig gegen die Sonne. Auf dem Schiff macht sie die Bekanntschaft zweier Engländerinnen, die ihr hübsches Gesicht bewundern und sich ihrer ein wenig annehmen. Lady Susanna, die mit dem Sekretär des Gouverneurs von Queensland verheiratet ist – und Helen McDonald, die in Melbourne heiraten will. Beider Adressen vermerkt sie in ihrem Notizbuch, man kann ja nie wissen.
Im Hafen von Melbourne angekommen, fährt sie die restlichen 350 Kilometer weiter mit der Postkutsche bis nach Coleraine im Bundesstaat Victoria. Der kleine Ort mit seinen knapp zweitausend Einwohnern wurde erst fünfzig Jahre zuvor gegründet. Onkel Bernhard holt sie von der Station ab.
„Hallo Chaja, hier bin ich!“
„Ich heiße jetzt Helena, bitte nenn mich nur noch so.“
„Na gut, mir soll’s recht sein. – Ist dir nicht zu warm in der langärmeligen Bluse? Dein Schirm wird bald ziemlich schmutzig aussehen, und mit diesen hochhackigen Schuhen wirst du nicht weit kommen.“ Der Onkel spuckt ein Stück Kautabak aus und greift sich das Gepäck.
„Kannst du reiten?“ Als sie verneint, seufzt er und knurrt: „Als Erstes besorgen wir dir ein Paar Gummistiefel.“
Im Städtchen Coleraine, das lernt Helena bald, dreht sich alles um Schafe. Der Mensch kommt an zweiter Stelle, und er ist bäuerlich gekleidet, an Stil denkt hier niemand. Die Frauen in der Nachbarschaft tragen grobe Leinenkleider mit schmutzigen Säumen. Alle sprechen Englisch, Onkel Bernhard ziemlich radebrechend und mit Jiddisch vermischt, obwohl er schon viele Jahre hier lebt. So schnell wie möglich will Helena die Landessprache lernen. Dem Onkel ist dieser Ehrgeiz suspekt, er meint, die Schafe verstünden eh kein Wort. Er wünscht sich die Hilfe seiner Nichte auf der Farm. Da braucht sie nicht zu reden, und sie muss Gummistiefel tragen.
Die junge Einwanderin aber möchte sich lieber auf andere Art nützlich machen. Wie steht es denn um Silberfelds Laden – wie wäre es, wenn sie dort bediente und die Bücher führte? Dass sie das kann, hat sie doch schon in Splitters Wiener Pelzhandlung bewiesen. Außerdem will sie irgendwo einen Kurs belegen – um Englisch zu lernen. Der Onkel misst die zierliche Gestalt im weißen Kleid mit seinem Blick und zuckt die Achseln. „Diese Kleine ist wirklich nicht für die Viehwirtschaft geschaffen“, denkt er bei sich. Soll sie im Laden aushelfen und im Haushalt anpacken. Er will nicht mit ihr streiten, sondern den Familienauftrag erfüllen und sie so bald wie möglich an den Mann bringen. Er tut ihr den Gefallen und meldet sie in der Schule von Coleraine an. Sie darf dort am Englischunterricht teilnehmen.
Helena bezieht ein eigenes Zimmer im geräumigen Haus des Onkels, sie hilft der Haushälterin in der Küche und sortiert im Laden die Waren – sie kommt zurecht. Und in der ersten Zeit hat sie mit den Englischstunden, mit neuen Bekanntschaften in der Nachbarschaft und mit Besuchen im nahen Merino, wo Onkel Louis wohnt, auch allerlei Abwechslung. Aber nach einigen Monaten findet sie ihr Leben reichlich öde. Und als der Onkel, der sonst nicht viel redet, anfängt, einen gewissen jungen Mann aus der jüdischen Gemeinde öfter und mit Nachdruck zu erwähnen und auch noch zum Essen einzuladen, begreift Helena, was die Stunde geschlagen hat. Es ist die alte Leier: Sie soll heiraten.
„Ich mag diesen Galgenvogel nicht, Onkel“, mault sie. „Da ist nichts zu machen.“
„Ob du ihn magst oder nicht: Er ist Sattler. Sein Handwerk blüht. Alle bestellen bei ihm.“
„Umso besser für ihn. Was soll er da mit einer Frau?“
„Aber du weißt schon, Helena, dass deine Mutter sehnsüchtig auf eine gewisse Nachricht von mir wartet? Du wirst bald dreißig.“
„Das weiß ich selbst.“
„Worauf wartest du? Willst du einen Goj heiraten? Am Ende einen Goldsucher? Oder einen entlaufenen Sträfling?“
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