»Das sollten wohl Sie herausfinden. Er folgte einem verdächtig aussehenden Wagen, richtig?«
Parry dachte an die Aufnahmen des Gesprächs über Funk, die er sich mittlerweile endlos oft angehört hatte. Hilani und Kaniola hatten sich gegenseitig ein wenig aufgezogen und ihr freundliches Geplänkel hatte mit ihren letzten Worten auf dieser Erde geendet.
»Ja, der Wagen, dem sie gefolgt sind.«
»Der Wagen, die Kleidung des toten Mädchens, die Leiche des toten Mädchens – das sind alles Möglichkeiten«, schlug sie vor.
»Also greift Kaniola in den Wagen, berührt das tote Mädchen oder ihre Kleidung, natürlich … natürlich.«
»Scheint mir eine sehr wahrscheinliche Einschätzung.« Sie hatte ein Glitzern in den Augen, wie ein kleines Mädchen, und einen beschwingten Tonfall.
»Sie haben noch was anderes gefunden, oder nicht?«
»Es waren ein paar Stofffasern auf seiner Uniform und an seiner linken Hand, in dem geronnenen Blut. Alle Fasern stimmen überein. Jetzt müssen wir nur Linda Kahalas Kleidung finden, sie von den Verwandten identifizieren lassen und sie miteinander vergleichen.«
»Ist das alles?«
»Lassen Sie Scanlons Leute die Gegend um den Koko Head durchsuchen, mal sehen, ob die irgendwas finden.«
»Wieso hätte er die Kleidung nicht einfach mit den Körperteilen zusammen ins Blow Hole werfen sollen?«
»Das Risiko ist zu groß, dass was schiefgeht, dass sie vom Wind davongetragen werden, neben dem Loch landen. Außerdem, wenn er ein Purist ist, dann schickt er seine Opfer nackt auf die andere Seite.«
»Purist?«
»Der Typ lebt in einer durchgeknallten Fantasiewelt – ich will gar nicht behaupten, ich würde sie verstehen, aber man kann wohl sagen, dass er auf Opferungen steht. Normalerweise werden Menschenopfer auf dieselbe Weise aus der Welt geschickt, in der sie sie betreten haben: nackt.«
»Das ist Ihre Sicht der Dinge?«
»Kaniola kommt vorbei, findet die Kleidung im Auto und während er und Hilani sie untersuchen und zu spät merken, was sie da in Händen halten, überrascht er sie. So sehe ich das.«
»Ziemlich ausgeklügelt.«
»Mit Sicherheit der erste verdammte verräterische Hinweis von diesem Kerl in all der Zeit, und völlig unbeabsichtigt. Er ist kühl und berechnend, ziemlich organisiert, wenn es darum geht, die beiden Cops vom HPD auszuschalten, und hat in all den Jahren keinerlei Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er ist anscheinend ziemlich intelligent.«
»Das hatte ich mir schon gedacht.« Parry ging im Büro auf und ab, sein Verstand raste, jetzt wo er die ersten forensischen Fakten hatte, um sein bisher eher fragiles Netz an Vermutungen zu stützen.
Weil der Killer unter die Kategorie organisiert fiel, konnten sie mit einiger Sicherheit vorhersagen, dass er zumindest teilweise auf das Profil passen würde, wenn er geschnappt wurde. Anders als Hellseher behaupteten sie nicht, in das Herz und den Verstand eines Killers blicken zu können, sondern sie nutzten bekannte Fakten und Informationen von Serienkillern in Haft wie John Wayne Gacey, Jeffrey Dahmer, Gerald Ray Sims, bevor er sich in der Haft umgebracht hatte, dem hingerichteten Ted Bundy – alles Serienkiller, die weit offener und kooperativer waren als ›Mad‹ Matthew Matisak es je war. Auch wenn Jessica davon ausging, dass Ted Bundy nicht mehr getan hatte, als die Leerstellen in vorgefertigten Fragebögen auszufüllen, die man ihm im Büro des Staatsanwalts vorgelegt hatte, und wenig mehr geliefert hatte als das, was sie hören wollten.
Der Passat-Killer stammte vermutlich aus einer dysfunktionalen Familie. Sein Vater hatte wohl einen festen Job gehabt, aber die elterliche Disziplin wäre bestenfalls wechselhaft gewesen. Kindesmissbrauch in einer seiner vielen Formen war wahrscheinlich fester Bestandteil des Familienlebens gewesen. Er hatte einen durchschnittlichen oder überdurchschnittlichen IQ, aber die Chance war groß, dass er in einem Hilfsarbeiterjob arbeitete, der seiner Meinung nach weit unter seiner erhofften Stellung, seiner Berufung oder seinen Fähigkeiten lag. Sein beruflicher Lebenslauf war vermutlich lückenhaft, wenn nicht chaotisch.
»Er könnte ein Student an der Universität von Hawaii sein, sehr wahrscheinlich mit eher durchwachsenen Leistungen«, schlug sie vor.
»Vielleicht, aber vielleicht auch nicht.«
»Mehrere der Mädchen gingen auf die Universität«, erinnerte sie ihn.
»Eine der wenigen Verbindungen, die wir zwischen einigen der Mädchen herstellen konnten«, stimmte er zu. Er erzählte ihr kurz von George Oniiwah, Lindas Freund, der zufällig auch Student am Manoa Campus der Universität von Hawaii war.
»Es scheint wahrscheinlich, dass der Killer einige Verbindungen mit der Universität hat, zumindest auf Basis der wenigen Informationen, die wir haben.« Jessica nahm eine warme Dose Coca-Cola vom Schreibtisch und goss den Rest in den Abfluss im Labor, spülte die Dose aus und warf sie in einen Recycling-Mülleimer unter dem Tisch. Lau beobachtete sie von einem Raum, der drei Türen weiter lag, durch eine Reihe an Glastrennwänden, die das Labor und die Büros trennte. Sie war ein wenig nervös, weil Lau so interessiert an ihr und Parry war, und fragte sich, was hinter seinen schwarzen Augen vorging. Ist es so schwer, im Labor an guten Klatsch und Tratsch heranzukommen? , fragte sie sich.
»Ja und das wären dann 64 Prozent der Studenten«, sagte Jim Parry, während er ihr folgte.
»Wie bitte?«
»Die genaue Zahl von männlichen Studenten auf dem Manoa Campus liegt um die 5.980.«
»Konzentrieren Sie sich zuerst auf die Teilzeitstudenten«, warf sie ein.
»Das wären dann um die 2.250.«
»Nein«, korrigierte sie ihn. »Abzüglich der Frauen, sagen wir mal 40 Prozent, zwischen 1.250 und 1.300.«
»Hey, nicht schlecht. Das ist doch mal eine Zahl, mit der sich arbeiten lässt«, sagte er mit einem leichten Anflug von Sarkasmus. »Ich werde Tony drauf ansetzen.«
»Denken Sie daran, unser Mann – wenn er überhaupt Student ist und nicht Tellerwäscher – ist vielleicht schon abgegangen oder wurde rausgeworfen. Sie sollten sich auch die Einschreibungen früherer Semester ansehen, zusammen mit den aktuellen.«
Er nickte, sagte ihr, dass sie recht hatte, und fügte dann leise ein Detail zu ihrem Wissen über den Killer hinzu: »Der Irre hat vermutlich den Großteil seines Lebens mit einer Freundin oder Ehefrau zusammengelebt oder tut es noch.«
»Oder den Eltern«, entgegnete sie.
»Vielleicht mit einem Elternteil.«
»Stress könnte bei seinen Gewaltausbrüchen eine Rolle spielen.«
»Möglicherweise kommt der Stress mit dem Passat?«
Sie stimmte ihm umgehend zu. »Vielleicht etwas Symbolisches, das mit dem Wind zu tun hat? Vielleicht wurde unser Mann bei einem schlimmen Sturm als Kind draußen gelassen, wer weiß?«
»Der hört wahrscheinlich Stimmen in dem verdammten Wind.«
Sie nickte anerkennend und führte wie automatisch den Gedankengang fort. »Gewalt kann auch durch ein plötzlich auftretendes Problem ausgelöst werden – finanziell, beruflich, in der Ehe oder Beziehung.«
»Alkohol und/oder Drogen könnten eine Rolle spielen«, fügte Parry hinzu und stellte sich dem kleinen Wettstreit ihrer Überlegungen. »Eine Person, die normalerweise keine Bedrohung ist, die man kein zweites Mal ansieht, sozial integriert, äußerlich unauffällig, sticht nicht aus der Menge hervor.«
»Er nähert sich seinen Opfern im Freien, auf nicht bedrohliche Art und an einem freundlichen, vertrauten Ort.«
»Sammelt sie in Einkaufszentren, in Geschäften oder an Bushaltestellen ein.«
»Bevorzugt Manipulation mit Worten im Gegensatz zu körperlicher Gewalt, während er seine Beute jagt. Laut dem Polizeibericht hört es sich so an, als könnte Linda ihn von früher gekannt haben, wollte nicht mit ihm gehen, also musste er physische Gewalt anwenden, um sie von der Straße in seinen Wagen zu bekommen.«
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