Trotzdem, auch wenn sie auf rationaler Ebene wusste, dass Matisak Tausende und Abertausende Meilen entfernt war und im Gefängnis saß, war er irgendwie doch hier bei ihr, seine eiskalte astrale Präsenz senkte die Temperatur in dem Hotelzimmer. Er war hier bei ihr … zusammen mit Linda Kahala … heute Nacht in Honolulu.
Einige Tage später, 15. Juli 1995
Nach mehreren Nächten unruhiger Träume und Albträume, Heimsuchungen von Matisak, der Klaue und dem phantomartigen Bösen hier in Honolulu, dem Passat-Killer, waren die Spuren bei Jessica langsam sichtbar. Albträume um drei Uhr nachts und tagelange Schichten im Labor mit Lau hatten sie ausgelaugt. Trotzdem trieb sie sich härter an als irgendwen im Team, verzweifelt bemüht, für Parry und seine Leute so viele Lücken wie möglich zu schließen, da sie jeden Tag damit rechnete, von Zanek abgezogen zu werden. Sie machte erst jetzt wirkliche Fortschritte und schloss die Tests ab, die von Laus Leuten vorbereitet worden waren. Die Ergebnisse waren erstaunlich. Allein aus dieser Tatsache zog sie Stärke, und sie war stolz darauf.
Es war bereits früh klar geworden, dass Officer Kaniolas Schusswunde nicht tödlich gewesen und er noch am Leben und vielleicht bei Bewusstsein war, als der Killer mit großer Wucht eine Machete oder möglicherweise ein Zuckerrohrmesser in seinen Hals getrieben und den Kopf beinahe abgetrennt hatte. Tests hatten diese These bestätigt. Was vielleicht noch wichtiger war, sie hatte festgestellt, dass das Blut, das Alan Kaniolas rechte Handfläche bedeckte, von jemand anderem stammte. Während ein anderer Gerichtsmediziner vielleicht einfach angenommen hätte, es sei Kaniolas eigenes Blut, vermutete sie instinktiv, Kaniola könne in seinen Todeskrämpfen den Killer verletzt haben, vielleicht mit dessen eigenem Messer. Sie war erfreut über diese kleine lohnende Information. Das gab ihr zumindest ein wenig Hoffnung, denn nun konnte man das Blut des Killers untersuchen und sie waren ihrer Beute schon einen ganzen Schritt nähergekommen. Man konnte nie wissen, was bei einem Bluttest alles herauskam. So konnte man alles Mögliche über den Killer erfahren: Blutgruppe, Ethnie, Alter, Geschlecht.
Aber diesmal stiftete die genauere Untersuchung des Blutes eher Verwirrung. Es war das Blut einer jungen Frau, möglicherweise das von Linda Kahala, und wenn das stimmte, dann war Officer Kaniola irgendwie entweder mit der Leiche in Kontakt gekommen oder oben auf Koko Head mit ihrem Blut bespritzt worden. Jessica biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste angesichts dieser Wendung der Ereignisse direkt unter der Linse ihres Mikroskops. Diese Information verändert einiges – sie überlegte sich mögliche Szenarien.
Früher an diesem Tag hatte sie bereits Agent Tony Gagliano getroffen, der vorbeigekommen war, um all die medizinischen Unterlagen abzuliefern, die er in die Finger kriegen konnte. Eine angenehme Überraschung war, dass er tatsächlich nützliche medizinische Informationen über Linda Kahala aufgetrieben hatte, ihre gesamte medizinische Biografie seit ihrer Geburt. Jessica begann mit einem Routinevergleichstest des Blutes, das man auf Kaniolas Handfläche gefunden hatte, und dem, was man über Linda Kahalas Blut wusste, und das war eine Menge, denn sie hatte eine seltene Blutkrankheit gehabt und mehrere, leicht zu identifizierende Charakteristika. Der Test dauerte den Großteil des Vormittags, aber der schwierige Teil war, Blut aus der Schulter und dem Unterarm zu nehmen, die sie aus dem Kühlfach geholt hatte. Unterdessen unterzog man den Arm selbst einer ganzen Batterie an Tests, und bisher hatten alle Ergebnisse darauf hingedeutet, dass er zu einer jungen Frau zwischen 15 und 20 gehört hatte, näher konnte Jessica es nicht bestimmen. In dem Alter erreichte das Knochenmark die maximale Ausdehnung und seinen Höhepunkt des Wachstums und der Reife. Die Größe der Knochen passte ebenfalls zu einem Mädchen in Lindas Alter. Mithilfe einer forensischen Anthropologin, die an der Universität von Hawaii arbeitete, eine Dr. Katherine Smits, wurde zunehmend klar, dass die Gliedmaße von einer jungen Frau stammte, die noch keine 20 und hawaiianischer Abstammung war – zumindest teilweise. Hätte man eine Röntgenaufnahme von Lindas Arm in ihrer Krankenakte oder irgendwelche DNA-Proben gehabt, um sie zu vergleichen, dann hätte man, da war Jessica sicher, zweifellos das Körperteil Linda Kahala zuordnen können. So wie die Dinge lagen, musste die Blutprobe genügen.
Sie machte sich wieder an ihren Blutvergleichstest und bis Mitte des Nachmittags war sie völlig überzeugt, dass nicht nur der verstümmelte Arm zu Linda Kahala gehörte, sondern auch das Blut auf der Hand von Officer Kaniola.
Bei dieser nun sicheren Erkenntnis setzte sie sich und lehnte sich in die Polster des Sessels zurück, der in dem Büro stand, das man ihr zeitweilig überlassen hatte. Alleine Lau schien von all den Assistenten etwas zu vermuten oder zu wissen. Schließlich hatte er ihr geholfen, das Blut abzugleichen. Er kam herein und sah, dass sie angesichts ihrer Entdeckung durcheinander war.
»Seltsam, oder?«, sagte er. »Ich meine, das mit dem Arm und Kaniolas Hand.«
»Ziehen Sie keine verrückten Schlüsse, Mr. Lau«, beschwichtigte sie. »Das ist genau die Art Information, die in den falschen Händen für jede Menge Verwirrung sorgen und das Ansehen Ihres Labors sowie unser beider Ruf beschädigen könnte, gar nicht zu reden von der, wie ich gehört habe, angespannten Lage in der Stadt. Wir wollen nicht, dass die falschen Leute davon erfahren, verstanden?«
Er sah aus, als haben ihn das schwer getroffen. »Vertrauen Sie mir als Profi nicht, dass ich darüber schweige, was hier in meinem Labor ermittelt wird? Ich war schon lange hier, bevor Sie kamen, Doktor, und ich werde hier sein, lange, nachdem Sie wieder gegangen sind. Nein, machen Sie sich da mal keine Sorgen, dass ich irgendjemandem außerhalb dieses Labors erzähle, was wir hier machen … nein.«
Sie war sofort beschwichtigend. »Ich meinte ja nur, dass die Presse sehr gut darin sein kann, aus Leuten wie Ihnen und mir Informationen herauszukitzeln, Mr. Lau. Das war nur eine Anmerkung, vorsichtig zu sein, das ist alles. Chief Parry will bestimmt, dass wir kein Sterbenswörtchen sagen, dass alles Top Secret bleibt, da bin ich sicher. Zumindest im Moment.«
»Ich verstehe. Die Schlagzeile der haole -Presse: Kanaka-Cop ist Passat-Killer. Er hat all die hawaiianischen Mädchen getötet. Ein Hawaiianer hat also die Mädchen getötet, das ist dann klar, und was passiert dann?«
»Eben«, stimmte sie zu. Auch wenn sie selbst es sich nicht genau so vorgestellt hätte, wusste sie, während er redete, dass er absolut recht hatte. Die Weißen, besonders die an der Macht, hätten sicher nichts lieber gesehen, als die Morde der hawaiianischen Frauen einem Hawaiianer anzuhängen und damit alle Spekulationen zu beenden, dass das Monster ein Weißer war – das glaubte auch Jim Parry. Sie hatte sein Profil über das vermutliche Alter, Geschlecht, die Rasse und Herkunft und den Lebensstil dieses Phantoms gelesen. Und das Profil machte absolut Sinn, wenn man bedachte, dass es auf statistischen Mittelwerten basierte. Aber Statistiken erwiesen sich nicht immer als wahr; deswegen war es ja auch nur ein Mittelwert.
»Machen Sie sich mal keine Sorgen«, versicherte ihr Lau. »Also, was machen wir als Nächstes?«
»Mittagessen gehen«, sagte sie monoton und barg den Kopf in den Händen. Die Müdigkeit war zu ihrem ständigen Begleiter geworden.
Beim Aufstehen streckte sie sich und sah einen Moment aus dem riesigen Fenster, ohne ein Wort zu sagen. Lau wurde hinter ihr langsam unruhig. Sie blickte konzentriert auf den westlichen Rand von Oahu. Die prächtige Flut der grünen Hügel ergoss sich vom vulkanischen Rand der gewaltigen Waianae-Bergkette. Wenn sie nicht aus dem Fenster schauen und diesen Anblick genießen könnte, würde sie fast glauben, sie sei wieder in ihrem Labor in Quantico, von dem aus man auf das Gelände der Akademie und das Trainingsareal sehen konnte. Sie hatte erfahren, dass das satte Grün Hawaiis tatsächlich von Menschen geschaffen worden war, durch die vielen Kanäle, die in die Berge gegraben wurden, um das Wasser von den höchsten Höhen nach unten zu befördern und eine ansonsten kahle Landschaft zu bewässern, die ohne diese Bewässerung wohl eher die Farbe von Teakholz hätte. Sie wünschte sich nun, dass ihr das niemand gesagt hätte, damit die Illusion heil geblieben wäre.
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