»Essen wäre eine gute Idee«, sagte Lau und durchbrach die Stille. »Sie arbeiten zu hart, Dr. Coran. Das ist für niemanden gut.«
»Essen! Genau, was ich auch eben dachte«, sagte James Parry, der so lautlos in der Tür erschienen war, dass selbst Lau erschrak.
»Wie ein richtiger James Bond, Chief Parry … sich an einen Mann so anzuschleichen«, sagte Lau.
»Sorry, ich wollte Sie nicht erschrecken, Mr. Lau.«
»Macht nichts«, log Lau und wollte gehen. »Ich glaube, Sie beide haben einiges zu besprechen.«
»Unser Mr. Lau hier scheint Gedanken lesen zu können«, sagte Parry, als er es sich ihr gegenüber in einem Bürostuhl bequem machte.
»Was meinen Sie mit Gedanken lesen?«
»Wir müssen etwas besprechen.«
»Oh, hat sich etwas ergeben, von dem ich wissen sollte?«
»Ich habe die ganze Sache, alles, was wir wissen und vermuten – jede Einzelheit – Dave Scanlon präsentiert, dem Polizeipräsidenten von Honolulu, und der war nicht besonders erfreut.«
»Nicht erfreut? Wieso?«
»Sagen wir mal, der Commissioner ist ein guter Politiker und möchte sich in alle Richtungen absichern. Auf jeden Fall gehen gerade alle verschiedenen Distrikte des HPD ihre Fälle vermisster Personen der letzten paar Jahre durch. Keine Ahnung, wie lange die Sache schon läuft, verstehen Sie?«
»Sie glauben, es könnten schon länger Frauen verschwunden sein, als wir das bisher bereits vermutet haben?«
»Das kann in diesem Moment niemand sagen.«
»Aber Sie haben ein paar alte Fälle ausgegraben, die denen im letzten Jahr hier und vor zwei Jahren auf Maui verdächtig ähnlich sehen?«
Er nickte. »Schuldig im Sinne der Anklage.«
Ihr wurde klar, dass Parry die Sorte Mann war, der einen anderen Blick auf die Dinge hatte, die unter seine Zuständigkeit fielen. Während zahllose andere Cops auf der Insel über dieselben Informationen verfügten, war es Parry, der alle Einzelteile zusammengefügt hatte. All das Material war auch von anderen intensiv untersucht worden, aber Parry und sein Team hatten es in neuem, wenn auch krankem Licht betrachtet, dem dunklen Lichtschein, der von einem eiskalten Killer geworfen wurde. Parry war genau das, worauf es beim FBI ankam. Für ihn war ein Tatort nicht einfach nur die Stelle, an der man die Beweise einsammelte, eintütete, verglich und beschriftete, sondern der giftige Widerschein der Finsternis im Geiste eines Killers. Wieso hatte der Killer diesen Ort gewählt, diese Zeit, diese Person? Es war dieser Ansatz, bei dem der verstorbene Otto Boutine Pionierarbeit geleistet hatte, den sie sowohl bewundert als auch sehr geliebt hatte, ein Mann, der gestorben war, um sie vor einem grausamen Tod unter den Händen des berüchtigten Vampirkillers, Matt Matisak, zu retten.
Parry arbeitete an einem Tatort nicht rückwärts, um ein Verbrechen zu rekonstruieren, wie es der typische Streifenpolizist tun würde, der sich überlegt, was passiert sein könnte, und dann seine Ermittlungen schön ordentlich entlang seiner Annahmen abarbeitet. Parry wusste, genau wie Jessica, dass es einige Indizien an einem Tatort gibt, die von ihrer Natur her nicht immer auf vernünftiges Handeln schließen lassen. Natürlich hatte Parry Interesse an den greifbaren Beweisen, die von dem Killer hinterlassen wurden, wenn es denn welche gab, aber selbst wenn es sie gab, war er mehr daran interessiert, welche indirekten Schlüsse man daraus am Tatort ziehen konnte, von denen jeder ein kleiner Teil des Schlüssels zum Denken des Killers war. In diesem Fall des Passat-Killers, den die Leute im Labor mittlerweile den Macheten-Mörder nannten, gab es keine greifbaren Indizien – nicht ein Fitzelchen, solange, bis der verstümmelte Arm von Linda Kahala aufgetaucht war. Außerdem gab es bisher auch keinen Tatort an sich, nur einen Ablageort, und selbst der war nicht gewöhnlich, denn er war unzugänglich. James Parry wollte Sicherheit haben: »Gibt es irgendwelche Anzeichen, die auf ritualistische, sadistische oder pseudosexuelle Handlungen am Opfer hinweisen?«
»Wofür halten Sie mich denn bitte, Parry? Eine Magierin? Bei dem wenigen, womit ich arbeite, kann ich unmöglich all diese Fragen beantworten. Finden Sie mehr von Linda Kahalas Leiche, dann vielleicht … nur vielleicht …«
Sie verstand natürlich sein brennendes Interesse, all diese Fragen beantwortet zu bekommen: Nahm sich der Mörder Zeit oder beeilte er sich? Welche Einsichten in den Geist des Killers könnte man am Tatort gewinnen? Was dachte er vorher, währenddessen, hinterher?
Wie es ihr Vater einmal ausgedrückt hatte: »Um den Künstler zu verstehen, muss man sich zuerst sein Werk ansehen.« Otto Boutines Profiling-Team hatte ihr beigebracht, dass der Killer zuerst in die Kategorien »organisiert« und »unorganisiert« eingeteilt wurde, und dass diese Eigenschaften Symptome des ordentlichen oder unordentlichen Verhaltens an den Tatorten waren und einen Straftäter viel eher definierten als die Art von Waffe, die er verwendete, oder das Kaliber an Patronen, das er bevorzugte. Zuckerrohrmesser gab es auf dieser Insel wie Sand am Meer.
»Bisher kann ich Ihnen sicher sagen, allein angesichts der Verstümmelung am Arm selbst, der ritualistischen Natur der Hiebe und den Schnittspuren an den Knochen, dass er definitiv auf sie einhackt, solange sie noch leben. Wir sind auch davon überzeugt, solche Brutalität bedeutet, dass er sicher weitermacht. Er genießt es.«
»Das ist also der Grund für den gleichbleibenden Opfertyp. Er sucht nach Opfern, die diesen besonderen Look haben.« Parry sagte das wie als Bestätigung dessen, was er sowieso schon glaubte.
»Wenn das Töten ein solches Gemetzel ist, dann ist es entweder ein Verbrechen aus Leidenschaft oder aus psychosexueller Leidenschaft.«
»Psychosexuelle Leidenschaft?«
»Ein Begriff, den wir gerade beim FBI eingeführt haben, für all die Soziopathen, die Menschen zerstören aufgrund der Anziehungskraft eines Ideals oder einer Fantasie, die untrennbar mit ihrer emotionalen Krise verwoben ist.«
»Leidenschaft klingt bei diesem Bastard fast wie ein Schimpfwort.«
»Es gibt zwei Seiten jeder Leidenschaft, Inspector.«
»Ja, das stimmt wohl.«
»Wir müssen seinen Unterschlupf finden, den Ort, an dem er tötet, wo er seine Fantasien auslebt.« Sie fuhr mit der rechten Hand ihren steif gewordenen Hals entlang.
»Machen Sie sich da mal nicht allzu viele Hoffnungen.«
Sie sah ihn erstaunt an.
»Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Chancen für unseren Serienkiller nicht schlecht stehen, wie so viele andere niemals geschnappt zu werden«, sagte Parry. »Noch wahrscheinlicher als eine Verhaftung ist, dass er einen kompletten mentalen Zusammenbruch erleidet.«
»Und heimlich, still und leise in eine Anstalt wandert«, stimmte sie leise zu.
»Die meisten glauben, das sei mit Jack the Ripper passiert, der ebenfalls Prostituierte getötet hat.«
Sie biss sich nachdenklich auf die Lippe, stützte den Kopf auf die Hände und fragte: »Glauben Sie, dass sie alle Prostituierte waren? Inklusive Linda Kahala?«
»Wenn nicht, dann wurde sie fälschlich für eine gehalten. Schwer zu sagen, ob sie bereits in die Szene abgeglitten war.«
Sie zeigte ihm die Belege, dass die verwaiste Gliedmaße einmal zu Linda gehört hatte, und erzählte ihm dann von Kahalas Blut auf Kaniolas Hand. Die Information schien ihn zu schockieren und löste eine ungewöhnliche Stille aus.
»Dann hatte der alte Joe Kaniola recht, dass sein Sohn der Einzige war, der diesen Bastard jemals aus der Nähe gesehen hat. Wenn es ihr Arm ist, dann muss der Killer gerade dabei gewesen sein, ihre Leiche loszuwerden, als Kaniola und Hilani ihn überrascht haben.«
»Scheint so.«
Parry überlegte weiter. »Aber wie hat Kaniola ihr Blut auf seine Hand gekriegt?«
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