Auch gibt es einige Hinweise darauf, dass eine Gluten- und Casein-freie Diät denjenigen Kindern hilft, die Probleme mit chronischem Durchfall, Bauchschmerzen oder Blähungen haben. In einer Untersuchung von zwei Gruppen von zehn Kindern mit abnormem Urin Peptiden konnte gezeigt werden, dass nach einem Jahr auf einer Gluten/Casein-freien Diät die Experimentalgruppe signifikante Verbesserungen in ihrem Verhalten und ihrem Entwicklungsniveau zeigten (Knivsberg et al., 2002). Leider beruhen viele Untersuchungen auf anekdotischen Fallbeschreibungen oder Studien ohne eine Kontrollgruppe.
2.2 Was ist Strukturierte Therapie und Autismus-spezifische Verhaltenstherapie (AVT)?
Strukturierte Therapie (Abk.: ST), Strukturiertes Training und Autismus spezifische Verhaltenstherapie (AVT) sind Sammelbegriffe für effektive therapeutische Interventionen, die eine empirische Basis haben, eine eindeutige Struktur aufweisen, in einem direkten Zusammenhang zu den Problemen autistischer Kinder stehen und individuelles, flexibles Planen beinhalten (Bernard-Opitz, 1993; Mesibov, Schopler & Hearsay, 1994). Strukturiertes Training kann als ein Kontinuum von Therapiekonzepten angesehen werden, die Schlüsselstrategien für Kinder mit Autismus anbieten (
Kap. 3.1.3).
Um wirksam Menschen mit ASS helfen zu können sind evidenzbasierte Methoden eine zentrale Grundlage. Die im Folgenden unter dem Begriff »Autismusspezifische Verhaltenstherapie« (Abk: AVT) zusammengefassten Strategien sind u. a. durch das Nationale Professionelle Entwicklungszentrum für Autismus-Spektrum-Störungen der Universität von North Carolina (Wong et al., 2013) bestätigt. Ein Überblick befindet sich im Anhang Nr.1. Es wird in diesem Überblick allerdings deutlich, dass die beschriebene Evidenz nicht immer das gesamte Altersspektrum deckt, sondern derzeit meist nur für bestimmte Altersgruppen bestätigt ist. Evidenzforschung im Bereich der Intervention bei ASS ist also weiter ein »work in progress«. Eine ausführliche Beschreibung von AVT-Methoden befindet sich im nächsten Kapitel.
Gemeinsam mit deutschen Kollegen haben wir vor einigen Jahren den Begriff »AVT« entwickelt. Hierbei handelt es sich um eine Spezifizierung strukturierter Therapien mit Hinweis auf ihre verhaltenstherapeutische Basis. In Abgrenzung zur Applied Behavior Analysis (ABA) wird der Therapieaspekt – statt des Analyse-Aspekts – betont. Daneben wird die in Deutschland oft übliche irrtümliche Reduktion der ABA-Methode auf das diskrete Lernformat vermieden. Der Unterschied zwischen beiden Methoden wird im folgenden Überblick dargestellt. Es wird deutlich, dass AVT über das Spektrum von ABA-Methoden hinausgeht (s. auch Bernard-Opitz & Nikopoulos, 2017).
Abb. 2.1: Hauptfokus von ABA und AVT (aus Bernard-Opitz & Nikopoulos, 2017).
Strukturierte Therapieprogramme haben ihre Wurzeln in verhaltenstherapeutischen Ansätzen, die in den 1960er-Jahren von Lovaas entwickelt wurden (Lovaas, 1968). Sie sind in Deutschland als klassische ABA-Methoden (Applied Behavior Analysis) bekannt. Durch kleine Therapieschritte, klare, wiederholte Anweisungen und unmittelbare Konsequenzen gelang es Lovaas, Grundfähigkeiten autistischer Kinder wie Imitation und Sprache auf- und Verhaltensprobleme abzubauen (Koegel et al., 1972). Längsschnittuntersuchungen zeigten allerdings, dass dieses sog. »Diskrete Lernformat« (DLF) bei vielen Kindern mit mangelnder Spontaneität und Generalisation einherging. Daher entwickelten Schüler Lovaas in den 1980er-Jahren das »Natürliche Lernformat« (NLF) (Laski et al., 1988) bei dem die Initiative des Kindes und die Generalisation des Gelernten im Mittelpunkt standen. Ende der 1980er-Jahre wurde auf beiden Methoden aufbauend das Training von Schlüsselverhaltensweisen (»Pivotal Response Training «, PRT) (Koegel & Koegel, 1988; Koegel, 1999) entwickelt. Hierbei ist die Förderung von wichtigen Verhaltensbausteinen wie Motivation oder Initiative des Kindes zentral. Es zeigte sich zum Beispiel, dass Kinder, die zwischen Aufgaben wählen können und deren kommunikative Ansätze verstärkt werden, motivierter beim Lernen sind.
Parallel zu obigen Ansätzen wurde von Lindsey seit den 1960er-Jahren das sog. »Präzisionslernen« entwickelt (Lindsey, 1964, 1972; Binder, 1996). Hierbei werden kleine Therapieschritte in kurzen Zeiteinheiten von 10 bis 30 Sekunden so lange geübt, bis sie automatisch ablaufen. Ein Kind, das beispielsweise nicht schnell genug lesen, schreiben und rechnen kann, wird mit komplexeren Aufgaben wie Problemlösen Schwierigkeiten haben. Hier muss zunächst sichergestellt werden, dass Lesefähigkeiten und Grundrechnen automatisch ablaufen und nicht das Verständnis der eigentlichen Aufgabe blockieren (Milyko, 2020).
Im Vergleich zu diesen lerntheoretischen Methoden, hat erfahrungs- und beziehungs-orientiertes Vorgehen eine lange Tradition. Es war zum Teil der einzige Ansatz, der in der Arbeit mit autistischen Kindern zur Verfügung stand. Hierbei wurde betont, dass Kinder Erfahrungen machen müssen und eine gute Beziehung nötig ist, um erfolgreich zu lernen. Aus dieser recht diffusen Ganzheitlichkeit heraus sind mittlerweile konkrete Programme mit klaren Therapiesequenzen entwickelt worden (Gutstein & Sheely, 2003). Besonders durch Untersuchungen im Bereich direkter Instruktion, deutlicher Strukturierung und emotionalem Lernen hat die Berücksichtigung von Erfahrung und Beziehung einen neuen Stellenwert erhalten (Twachtman-Cullen, 2004).
Etwa zeitgleich zu den Entwicklungen zum Diskreten Lernformat wurde von Schopler in North Carolina das TEACCH-Programm (Treatment and Education for Autistic and related Communication handicapped Children) aufgebaut, das mit »Behandlung und Erziehung von autistischen und kommunikationseingeschränkten Kindern« übersetzt werden kann (Schopler & Mesibov, 1994; Mesibov, Shea & Schopler, 2004). Zu den wesentlichen Merkmalen dieses Programms gehört »strukturiertes Lernen«, wobei klare Erwartungen und Ablaufpläne sowie die frühe Anleitung zur Selbständigkeit kennzeichnend sind. Bilder, Symbole und Wortkarten verdeutlichen die Lernsituation (Bernard-Opitz & Häußler, 2010).
Auch frühe Kommunikationsprogramme bauten auf den guten visuellen Fähigkeiten vieler Kinder mit ASS auf. So wurden Handzeichentrainingsprogramme (Bernard-Opitz, Blesch & Holz, 1988; Fachverband des Verlagswerks der Diakonie, 2004), das PECS (Picture Exchange Communication System) (Frost & Bondy, 2002) sowie bebilderte Handlungspläne (McClannahan & Krantz, 1999; Hodgdon, 2000) entwickelt. Kurze Zeit später wurde Videomodellierung als effektive Methode in der verhaltenstherapeutischen Arbeit bestätigt (Charlop-Christy & Daneshvar 2003).
Da in dieser Zeit zunehmend Kinder und Jugendliche mit hoch funktionalem Autismus bzw Asperger vorgestellt wurden, wandten Attwood und andere zunehmend kognitive verhaltenstherapeutische Methoden auf diese Gruppe an (Attwood, 2004). Hierbei werden Gedanken und Einstellungen bewusst gemacht und auf ihre Angemessenheit oder ihre mangelnde Logik überprüft (Baker, 2017).
Unabhängig vom beschriebenen »Strukturierten Lehrprogramm« nach dem TEACCH-Modell wurde 1988 von uns in Singapur das STEP-Programm (Structured Teaching for Exceptional Pupils) entwickelt, was »Strukturiertes Training von außergewöhnlichen Kindern« bedeutet (Bernard-Opitz, 1993). Dieses Programm begann mit sieben Kindern, wuchs jedoch sehr schnell auf über 100 Kinder mit ASS an. Es beinhaltete eine klare Strukturierung von Aufgaben und Abläufen, eine deutliche verhaltenstherapeutische Basis, aber auch erfahrungsorientierte, entwicklungsorientierte und motivationspsychologische Komponenten. Emotionales Lernen wie die Erfahrung von Überraschung, Freude oder leichtem Stress wurde systematisch in die Therapieprogramme einbezogen.
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