Ich habe schon den Mund geöffnet, um sie das zu fragen, als sie sich zu mir vorbeugt, meine Hand nimmt, sie öffnet – ich habe sie aus lauter Angst zu einer festen Faust geballt –, etwas hineinlegt und sie wieder schließt. Dann sieht sie mir in die Augen und ich bemerke zum ersten Mal, wie traurig diese sind. Aber ich mache mir nichts daraus, mir ist egal, ob sie traurig ist oder nicht, und ich will ihr das, was sie mir in die Hand gelegt hat, am liebsten gleich wieder zurückgeben, wenn nicht sogar ins Gesicht schleudern. Doch der Blick meiner Großmutter zwingt mich dazu, zu schweigen und mich nicht zu rühren. Ich weiß nicht, woran es liegt.
„Resa, ich kann dir nicht viel darüber sagen, worum es hier geht. Du musst es selbst herausfinden, so wie ich damals, nur dass es bei mir aus reinem Zufall geschah. Du sollst ein bisschen besser darauf vorbereitet sein, denn“, sie macht eine kurze Pause, „es handelt sich hierbei um etwas, das noch wichtiger ist als dein Leben ... oder zumindest wichtiger als dein Tod ...“
Also damit kann ich rein gar nichts anfangen. Wieso denn mein Tod? In meinem Herzen verstärkt sich wieder der Drang, meiner Großmutter die Augen auszukratzen. Ich will einfach nichts hören, das wichtiger ist als ich selbst. Und dennoch gehorche ich. Ich weiß selbst nicht, warum. Vielleicht ist es die Entschlossenheit, mit der sie spricht, vielleicht die Traurigkeit in ihren Augen, vielleicht die Leidenschaft in ihrer Stimme, als sie sagt: „Sieh dir an, was ich dir gegeben habe, und denk darüber nach.“
Ich öffne meine Faust und sehe eine kleine Spiegelscherbe.
***
Sie sieht aus dem Fenster in ihren Garten, so wie immer, wenn sie etwas bedrückt.
Es ist geschehen! Es ist passiert! Sie hat es tatsächlich getan! Ja, sie hat Resa wirklich die Spiegelscherbe gegeben!
Sie ist sich nicht sicher, ob sie darüber den Kopf schütteln oder das vollkommen in Ordnung finden soll. Doch es ist geschehen, es lässt sich nun nicht mehr ändern. Beinahe kann sie Lunas Stimme hören, wie sie dieselben Worte sagt. Aber hat sie recht? Kann sie es nun wirklich nicht mehr ändern? Und was ist mit ihr selbst? Hat sie das Richtige getan, indem sie ihrer Enkeltochter die Spiegelscherbe gegeben hat?
Die Antwort weiß einzig und allein die Zukunft.
Auch das hat sie Luna schon mehrfach sagen hören. „Du musst den Dingen vertrauen, und außerdem findet sogar ihr Menschen manchmal den richtigen Weg, manchmal entscheidet sogar euer Instinkt richtig!“
Aber ist es wirklich ihr Instinkt gewesen, der sie geleitet hat? Und wenn ja, ist es wirklich die richtige Entscheidung gewesen?
*
Auf der Rückfahrt im Auto schweige ich. Meine Mutter ist gekommen, direkt nachdem ich gesehen habe, was mir meine Großmutter zuvor gegeben hat.
Ich muss nachdenken – das kommt bei mir eigentlich nie vor.
Ich grübele über das, was mir meine Großmutter gesagt hat, darüber, was sie mir gegeben hat, aber eigentlich verstehe ich nur Bahnhof. Ich habe keine Ahnung, wie meine Oma einmal gewesen ist, was sie denkt. Ich weiß noch nicht einmal, was ihr Lieblingsfilm ist oder ob sie überhaupt Filme sieht. Das kann ich mir bei ihr irgendwie nicht richtig vorstellen. Über meine Großmutter weiß ich fast gar nichts, bloß wie sie heißt, dass sie um die achtzig Jahre alt ist, dass sie einen total anderen Geschmack und total andere Ansichten hat als ich und dass sie verrückt ist.
Meine Gedanken sind so wirr und durcheinander, dass ich für einen Moment glaube, dass die Dinge, die mir meine Großmutter gesagt hat, tatsächlich ernst zu nehmen sind und sie überhaupt nicht verrückt ist. Im nächsten Moment denke ich, ich wäre im Auto eingeschlafen und hätte dabei diesen merkwürdigen Traum gehabt. Dann meine ich, dass meine Großmutter komplett verrückt ist, so albern kommen mir ihre Worte nun vor. Ich weiß überhaupt und rein gar nichts, ich bin bloß verwirrt.
Gedankenverloren spiele ich mit der Spiegelscherbe in meinen Fingern. Sie schimmert silbrig und weiß, aber nicht, weil sie angelaufen ist, sondern weil das Metall hinter der Glasscheibe eine seltsame Farbe hat. Es ist nicht wie das von anderen Spiegeln. Die glatte Oberfläche glänzt in den letzten Strahlen der Abenddämmerung. Als ich vorsichtig mit dem linken Zeigefinger darüberfahre, ist mir, als würde sie im Sonnenlicht heller und heller glänzen, bis ich blinzele. Danach ist das Strahlen wieder weg. Mein Zeigefinger hat keine Abdrücke auf der Scherbe hinterlassen, obwohl meine Hände feucht von meinem Angstschweiß sind. Verwundert runzele ich die Stirn. Wie kann es sein, dass diese Scherbe immer noch so sauber ist, obwohl ich sie ganz fest mit meiner Faust umschlossen habe? Was hat das zu bedeuten?
Vorwurfsvoll schüttele ich den Kopf.
Vorwurfsvoll? Ich mache mir Vorwürfe?
Jetzt fantasiere ich schon!
Was hat es schon zu bedeuten, dass meine Großmutter mir eine kleine Spiegelscherbe geschenkt hat, auf der man keine Fingerabdrücke sieht? Wahrscheinlich hat sie sie mir nur gegeben, weil sie eben endgültig verrückt wird.
Der Glanz der Spiegelscherbe ist mit der Zeit sicherlich nicht größer geworden! Das liegt doch bloß daran, dass mir meine Großmutter so einen Quatsch vorgedichtet hat, so einen Blödsinn! Und ich fange jetzt auch schon an, das alles zu glauben! Vielleicht sollte ich mir ja nicht nur um den Geisteszustand meiner Großmutter Sorgen machen, sondern ebenfalls um meinen? So einen bodenlosen Schwachsinn kann man doch gar nicht glauben.
Und dennoch ... irgendetwas ist hier seltsam, das sagen mir mein Verstand und mein Gefühl ...
Der Raum um mich herum beginnt zu kreisen, mir wird schwindelig, schlecht, ich will mich schon aufrappeln und in mein Bad rennen, um mich dort zu übergeben und nicht in meinem Bett. Doch da beruhigt sich der Wirbelwind, der mein Zimmer durch die Luft geschleudert hat, auch die Übelkeit verschwindet. Mir ist schlecht geworden, weil ich die ganze Zeit auf die Spiralen auf meinem Kleiderschrank geschaut habe. Obwohl ... es kann auch mit etwas anderem zusammenhängen. Mit der Scherbe, mit meiner Verwirrung. Was soll ich mit dieser Scherbe anfangen? Und woher kommt diese merkwürdige Ahnung? Dieses komische Gefühl aus meiner Magengegend, das mir zuflüstert, dass heute etwas völlig Unerwartetes passieren wird. Ich verstehe es nicht. Und dann wird mir wieder schlecht.
Alles, was sich in meinem Magen befindet, macht sich erneut auf den Weg nach oben. Erschrocken versuche ich, es herunterzuschlucken, aber es gelingt mir nicht. Der Orangensaft und das halbe Stück Kuchen wandern gerade meine Speiseröhre nach oben.
Hastig springe ich von meinem Bett auf. Mit einem Satz bin ich in meinen Hausschuhen – ich hasse es, sockig herumzulaufen –, mit einem zweiten Sprung bin ich an der Badezimmertür, bis ich registriere, dass meine Übelkeit wieder weg ist. Bloß, woher kommt sie?
Langsam wende ich mich um und lasse mich wieder in die tiefen Polster meines Bettes fallen. Erneut versuche ich, das Gefühl in meiner Magengegend zu ergründen, und abermals wird mir übel. Doch diesmal höre ich nicht auf das Gefühl der Übelkeit. Ich glaube zu wissen, dass es nicht echt ist, sondern vielmehr ein ... ein ... ein ... eine Warnung. Ich habe so etwas noch nie gehabt. Es ist so seltsam, so ungewohnt, so merkwürdig ... Besonders komisch finde ich die Tatsache, dass die Übelkeit verschwindet, als mein Blick durch mein Zimmer schweift und am fünften Band von Harry Potter hängen bleibt. Ich erinnere mich, dass es da eine Stelle gibt, die ich noch einmal gerne lesen würde, habe aber vergessen, welche Seite das ist.
Als ich mich wieder auf das Gefühl der Warnung konzentriere, wird mir sofort wieder schlecht. Und diesmal richtig! Ich versuche, den schon in meiner Speiseröhre hängenden Mageninhalt herunterzuschlucken, aber es gelingt mir nicht. Er drückt mit solch einer Kraft nach oben. Diesmal schlüpfe ich gar nicht mehr in meine Hausschuhe, so eilig habe ich es, in mein Bad zu kommen. Jetzt hört die Übelkeit auch nicht auf, als ich an der Tür zum Bad stehe. Mit einem Würgen kommen das halbe Stück Kuchen und der Orangensaft, den ich ausnahmsweise bei meiner Großmutter getrunken habe, wieder hoch und ergießen sich in die Toilette. Der Anblick ist so ekelerregend, dass ich gleich ein weiteres Mal würgen muss, aber in meinem Magen ist nichts mehr drin, das ich herausbrechen könnte.
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