„Ich glaube, wir sollten aufgeben, wir schaffen es ja doch nicht, diesen Quatsch aufzuhalten“, murmelt Nina.
Ich starre sie an, als hätte sie ihren Verstand verloren, und in diesem Moment denke ich das auch. Und dann sehe ich das Plakat wieder an, denke daran, wie unsere Schule mal gewesen ist und dass es wohl Dinge gibt, die sich nicht aufhalten lassen. Das sind die Momente, in denen man sich einfach in seiner Villa verstecken, die Rollläden zuziehen und niemandem die Tür öffnen will. Aber auch das würde nicht funktionieren. Mir fällt wieder ein, dass Nina normalerweise nicht aufgibt, sie ist eine entschlossenere Person als alle anderen, die ich kenne. Und dennoch hat sie es getan. Sie hat aufgegeben.
Eigentlich hätte ich hoffnungslos, niedergeschlagen sein müssen, weil wir beschlossen haben, uns nicht dagegen zu wehren, dass wir in Zukunft alle in derselben Trauerkleidung in die Schule gehen werden. Stattdessen werde ich wütend. Meine Hände krampfen sich in meinen Hosentaschen zusammen und hinterlassen Spuren auf meinen Oberschenkeln. Meine Augen habe ich so fest zusammengekniffen, dass ich kaum etwas sehen kann. Und trotz meiner Wut spuken die Gedanken in meinem Hinterkopf herum, die Gedanken der Hoffnungslosigkeit, die wohl kommen werden, wenn meine Wut verraucht ist. Ich habe niemals erwartet, dass Nina je aufgeben würde. Und doch ist der Tag gekommen, der Tag, an dem sich zumindest das ändert ...
„Also, heute wollen wir uns noch einmal mit der möglichst gleichmäßigen Verteilung des Geldes innerhalb und zwischen Industrie- und Entwicklungsländern beschäftigen.“
„So? Wollen wir das?“, denke ich bloß.
Tja, so beginnt unsere Erdkundelehrerin die sechste Stunde und die Wut, die sich seit dem Morgen etwas abgeschwächt hat, beginnt wieder, in mir zu brodeln. Und tatsächlich setzt sich unsere Lehrerin intensiv mit den globalen Folgen der ungleichmäßigen Verteilung des Geldes auseinander, während meine Augen schmaler und schmaler werden. Ich kann noch nicht einmal mein alltägliches Lächeln aufsetzen, ich empfinde nur blanke Wut. Wut auf die Lehrerin, die uns das eingebrockt hat, Wut auf die Politiker oder wer eben sonst die Lehrpläne schreibt und dafür verantwortlich ist, dass wir nun in Zukunft in Trauerkluft in die Schule kommen werden. Ich kann und will das alles nicht verstehen, aber mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als mich damit zu arrangieren. Doch bis ich mich damit abgefunden habe, wird diese Wut wohl jeden armen Menschen treffen, der mir über den Weg läuft.
Mein Zorn umgibt mich, wie die Atmosphäre die Erde umgibt. Er knistert in der Luft und tritt in elektrischen Blitzen zutage, zumindest erscheint es mir so. Er schmeckt wie heißes Feuer auf der Zunge und riecht verkokelt. Ich labe mich an dieser Wut, sie erfüllt mich mit der Befriedigung, dass, obwohl ich aufgegeben habe, sie alle Schuldigen irgendwann treffen wird. Und das nicht bloß wegen der Sache mit der Schulkleidung, sondern wann immer jemand mir etwas einbrocken wird, das überhaupt nicht meiner Meinung entspricht, wird meine Wut ihn treffen und ... na ja, er wird sich wünschen, es nicht getan zu haben. Ein Brennen macht sich auf meiner Haut breit. Es ist wie das Lodern von Feuer, von brennender Wut.
Meine Erdkundelehrerin sagt gerade: „Es ist unheimlich, wirklich unheimlich wichtig, dass wir uns um die gleichmäßige Verteilung des Geldes kümmern, denn das ist überlebenswichtig für viele von uns ...“
Niemals habe ich geglaubt, dass sich meine Erdkundelehrerin Frau Vender jemals auf die Seite dieser Gleichheitsfanatiker stellt, der Leute, die für diese Schulkleidung verantwortlich sind. Frau Vender trägt nur teure Markenkleidung und wahrscheinlich werden auch die Lehrer auf irgendeine Weise dieser neuen Kleidungsordnung unterworfen werden. Von diesem Kram, über den sie gerade redet, habe ich ja letztlich keine Ahnung, aber ich glaube zu verstehen, dass wir auf einmal den armen Leuten unser Geld abgeben sollen. Wir, die wir hart dafür gearbeitet haben, sollen das, was wir uns verdient haben, abgeben? Das dürfte Frau Vender doch genauso wenig passen wie mir.
„Resa, kann ich kurz mit dir über etwas sprechen?“ Die Stimme meiner Erdkundelehrerin hat etwas Einfühlsames an sich, sie klingt verständnisvoll, warm und freundlich.
Ich will schon genervt aufseufzen, doch ich halte mich zurück. Ich schaffe es sogar, mein Lächeln aufzusetzen, von dem ich geglaubt habe, dass ich es verloren hätte. „Worum geht es denn?“ Aber ich schaffe es nicht, den schleimigen Tonfall, den ich normalerweise benutze, zu treffen.
„Ich mache mir Sorgen um dich“, erklärt mir Frau Vender. Ich setze ein unwissendes Gesicht auf, als wüsste ich tatsächlich nicht, was sie meint. „Es geht darum, dass du dich heute gar nicht am Unterricht beteiligt hast, wie du es sonst tust.“ Der Blick von Frau Vender ist ernsthaft besorgt.
„Oh!“ Ich klinge zwar überrascht, bin es aber nicht. Ich weiß selbst, dass meine mündliche Mitarbeit in dieser Stunde wirklich zu wünschen übrig gelassen hat. Allerdings stört mich das herzlich wenig, ich habe einfach keinen Bock, mich mit Gleichheit und so weiter auseinanderzusetzen.
„Was war denn los? Geht es dir nicht gut? Bist du krank? Möchtest du nach Hause gehen? Oder stimmt etwas mit deinen Freundinnen nicht? Hast du vielleicht Liebeskummer? Du kannst wirklich gern mit mir darüber reden, dazu sind wir Lehrer schließlich da.“ Frau Vender überschüttet mich geradezu mit Fragen, nicht nur mit denen, die aus ihrem Mund herausgesprudelt kommen, auch mit der einen unausgesprochenen in ihrem Blick und ihrer Gestik: „Resa von Schwarzberg, was ist mit dir los?“
Allerdings lässt mich diese Fragerei vollkommen kalt. Ich denke noch nicht einmal im Traum daran, mit meiner Lehrerin darüber zu reden, ob ich mit jemandem ein Problem habe. Normalerweise schreie ich ja niemanden an, ich verbreite nur hinter seinem Rücken die übelsten Gerüchte, aber wenn man mich so herausfordert wie jetzt Frau Vender, tut es mir leid, dann werde ich sie eben doch anschreien.
„Sie wollen also wissen, was mich bedrückt?“, frage ich mit hochgezogenen Brauen. Ich will, dass meine Erdkundelehrerin ein wenig vorgewarnt ist, wenn ich sie gleich anbrüllen werde.
„Sicher ... Aber natürlich nur, wenn du das möchtest ...“
„Nun gut.“ Meine Stimme wird gefährlich ruhig. „Die Antwort ist, dass ich keine Nerven für solch miserablen Unterricht habe.“
„Wie, du meinst, dass ich meinen Unterricht schlecht mache, weil ich zu streng bin?“ Frau Vender scheint wirklich schockiert zu sein. Mit so einer Antwort hat sie einfach nicht gerechnet.
„Nein“, zische ich so energisch und impulsiv, dass einige Tropfen Spucke durch die Luft fliegen, was mir an jedem anderen Tag furchtbar peinlich gewesen wäre, aber, wie ich schon erwähnt habe, heute ist einfach alles anders ...
„Und was ist es dann?“, fragt meine Erdkundelehrerin. Sie klingt unsicher, was wahrscheinlich an der geballten Ablehnung liegt, die mein Spucken ausgedrückt hat.
„Ich hasse dieses Gleichheitstheater“, keife ich, drehe mich um und stolziere davon.
Frau Vender bleibt noch eine Zeit lang stehen und sieht mir kopfschüttelnd nach. Ihr verständnisloser Blick brennt Löcher in meine schicke, neue Bluse. Ich weiß auch, weshalb sie mir so erschrocken nachsieht. Sie kann es einfach nicht fassen, dass ich mich gegen sie gestellt habe und so respektlos mit ihr umgegangen bin. Sie hat nicht gedacht, dass sie jemals erleben würde, wie ich, die größte Schleimerin überhaupt, die Dreistigkeit besitze, ihr so ins Gesicht zu keifen. Sie hat wirklich nicht gedacht, dass dieser Tag mal kommen würde, dass der Tag mal kommen würde, an dem sich alles ändert ...
***
Die alte Frau sitzt in ihrem Wohnzimmer und spielt nervös mit ihren Händen herum. Sie fragt sich, ob sie wirklich bereit dazu ist, all diese Dinge zu erfahren. Wie soll sie es ihr nur sagen? Sie weiß es einfach nicht, und Luke und Luna fragen, das geht ja nun nicht mehr, das würde nur sie tun können. Soll sie ihn ihr also tatsächlich geben? Ist ihre Enkelin wirklich bereit dazu, diese andere Welt kennenzulernen, die Wahrheit kennenzulernen? Die Wahrheit, die einen tatsächlich umwirft.
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