Dennoch steckt mehr dahinter. Es ist eine Warnung, eine Angst, etwas, das mir sagt, dass hier etwas eindeutig nicht stimmt. Es ist wie jemand, der mir ununterbrochen ins Ohr flüstert, dass ich gefälligst mit irgendetwas aufhören sollte, nur, dass ich nicht weiß, womit. Mein unruhiger Blick gleitet durch mein Zimmer. Es wirkt leer, kalt, verlassen. Die wunderschönen Türkistöne, die ich sonst über alles liebe, machen mir heute aus unerfindlichen Gründen Angst. Ich fühle mich zurückgelassen, einsam, wie jemand, den man im Getümmel auf der Straße verloren oder – noch schlimmer – sitzen gelassen hat. Niemand ist da, dem ich mich anvertrauen kann, der versteht, ich fühle mich ... wie der einzige Mensch auf der Welt! Allein mit meinen Gefühlen, die mir unentwegt Dinge zuflüstern, von denen ich keine Ahnung habe. Mein Verstand sagt mir, dass ich nicht darauf hören soll, dass das, was sie mir mitteilen wollen, vollkommener Schwachsinn sei, während mir die Gefühle einflüstern, mein Verstand läge grottenfalsch ... Und ich? Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.
Wieder und wieder streichen meine Finger über die Scherbe. Sie ist mittlerweile warm geworden, weil ich sie durchgehend in meinen Händen behalten habe, beim Essen habe ich sie in meine Hosentasche gestopft. Irgendetwas bringt mich dazu, sie immer bei mir zu haben. Was es ist, kann ich nicht sagen.
Das fahle Mondlicht – es ist so kalt, dass es mir einen Schauer über den Rücken jagt – bringt den kleinen Spiegel zum Glänzen. Er ist so voll und strahlend, dass er mich blendet. Ein weiterer Schauer gleitet mein schmales Kreuz hinab, so kalt wie die arktischen Winterstürme.
Ich fahre erschrocken zusammen, als ein Schatten für einen Moment das blasse Licht des Mondes verdeckt. Der Schemen ist sofort wieder weg, schnell wie eine Fliege, die nicht von einem umherfliegenden Schuh getroffen werden will. Obwohl der Augenblick so kurz gewesen ist, erhasche ich einen Blick auf den Übeltäter, den ich für den Bruchteil einer Sekunde für einen Geist gehalten habe.
Es ist eine dunkle, riesige Krähe gewesen, eine von denen, die mit ihren gewaltigen schwarzen Flügeln und den intelligent schimmernden Knopfaugen über dem scharf gebogenen Schnabel auch hier in Berlins City herumfliegen. Dieses kurze Schockerlebnis trägt nicht gerade dazu bei, meine Angst loszuwerden.
Ich halte die Spiegelscherbe noch ein letztes Mal ins Licht des Mondes. Ich habe schon vor, sie in meine Nachttischschublade zu legen, doch als sie erneut aufstrahlt, fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
*
Die Spiegelscherbe, die mir meine Oma geschenkt hat, besitzt genau dieselbe Form und dasselbe silbrige Glitzern wie die auf der Unterseite meines Spiegels!
Wie eine Marionette, die von ihrem Puppenspieler geführt wird, stehe ich auf und stakse hinüber zu meinem Kleiderschrank. Ich laufe vollkommen automatisch, mein Verstand hat die Kontrolle über mich verloren. Es ist, als würde ich von einem Magneten angezogen werden. Um es kürzer zu machen: Was ich da tue, ist völlig absurd!
Ich tue es dennoch. Die Tür schiebt sich langsam auf, offenbar bin ich als Marionette ziemlich schwach. Ich spüre gar nicht mehr, wie sich meine Füße bewegen, sie tun es einfach. So geschieht es auch vollkommen unbewusst, dass ich die Tür hinter mir wieder schließe. Das nehme ich alles gar nicht wahr, es rauscht einfach an mir vorbei. Es ist ein seltsames Gefühl, denn zum ersten Mal in meinem Leben verlasse ich mich nicht mehr auf meinen Verstand, sondern auf meinen Instinkt. So ist er es auch, der mir befiehlt, mich vor dem Spiegel hinzuknien. Meine Hand tastet nach dem kleinen Splitter auf der Unterseite des Rahmens.
Mit zitternden Fingern streiche ich über die eingelassene Scherbe, die andere habe ich in meiner rechten zur Faust geballten Hand. Mir ist, als würde ich eine dicke Staubschicht wegwischen, als ich darüberfahre, und darunter beginnt der Spiegel zusammen mit seinem Bruder zu glänzen. Es ist ein wunderbares Schimmern, eines, das wie ein warmes Gefühl über meine Haut streicht und wie ein erfrischendes Prickeln durch meine Adern fährt. Es lässt meinen ganzen Kleiderschrank in einem goldenen Licht erstrahlen.
Doch ich bin die Marionette meines Instinktes und deshalb öffne ich meine Faust, hebe die Hand und halte die Scherbe, die ich heute von meiner Großmutter bekommen habe, gegen den Splitter am Spiegel.
Wieder überkommt mich diese Übelkeit, meine Sinne schwinden und ein Würgen entsteht in den tiefsten Tiefen meines Verdauungstraktes. Der Boden schwankt wie ein Schiff auf den Wellen einer stürmischen See. Mein Verstand schreit eine Warnung. Mit der Linken greife ich automatisch an den Spiegel, um mich abzustützen, und dabei schlägt die Scherbe in meiner Hand völlig unbeabsichtigt an ihr Gegenstück.
Für einen Moment erblicke ich nicht mich selbst im Spiegel, das Gesicht bleich vor Übelkeit, die Augen vor Schreck aufgerissen, weil der Boden so schwankt. Ich sehe einen Wald, dunkel und geheimnisvoll. Feuchtigkeit tropft von den Blättern und das grüne Sonnenlicht bahnt sich seinen Weg zwischen den Tropfen und Blüten hindurch. Ein See schimmert und ein Tier, eine Raubkatze, betrachtet nachdenklich das Gesicht im glitzernden Wasser.
Ich verliere den Boden unter den Füßen. Es ist, als würde ihn jemand wegziehen ...
Es dauert gefühlte Ewigkeiten, die meine Füße brauchen, um wieder Halt auf dem glitschigen, weichen, unebenen Boden unter mir zu finden.
Ich sollte doch ins Krankenhaus gehen, diese Übelkeit sorgt ja für hirnlose Halluzinationen.
Das denke ich – und ich hoffe es.
Doch mein Verstand verbietet es mir, meine Augen zu öffnen oder nur ein wenig unter den Lidern hindurchzuspähen. Warnende Stimmen in meinem Kopf flüstern mir zu, dass mir Gefahr drohe. Unmittelbare Gefahr.
Nicht darauf hörend hebe ich meine zuvor fest zusammengekniffenen Lider – wenn auch nur einen Spalt.
Ich sehe nicht das, was ich sehen sollte. Ich sehe, dass mein Zimmer nicht mehr da ist! Weg!
WEG!
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