Noch vor dem Mittagessen hatte Lester mich auf den neusten Stand hinsichtlich seiner Gallensteine, seiner zweiten Scheidung und seiner jetzigen Freundin gebracht. Unmittelbar nach dem Mittagessen erlitt er etwas, was er mit den Worten “epileptischer Nikotinanfall“ umschrieb. Als er sich erholt hatte, schlüpfte ich kurz für einen Kaffee und einen schnellen Nervenzusammenbruch aus dem Laden. Ich rief Guy Snowden an und sagte ihm, dass ich unser Treffen verschieben müsste.
„Ist etwas passiert?“, fragte er misstrauisch. Wahrscheinlich wegen meines Tonfalls.
Ich versicherte ihm, dass alles in Ordnung sei, obwohl ich mich fragte: Wenn Gottes Wege unergründlich sind, warum sollte sich dann der Teufel nicht genau so gut um eine vorübergehende Anstellung in einer Krimibuchhandlung bemühen?
Nach dem Mittagessen erzählte Lester mir von seiner Angina, seiner Steuerprüfung, seinem ersten Herzinfarkt und den rotzigen Teenagertöchtern seiner Freundin. Ich entschied, dass ein weiterer Tag mit Lester mir ebenfalls Brustschmerzen verursachen würde.
Und rief die Agentur an.
* * * * *
An diesem Abend kam Jake vorbei. Er brachte chinesisches Essen und die Alien vs. Predator DVD mit.
Ich hatte den Laden gerade hinter den schwerfälligen Fersen von Lester abgeschlossen und versuchte, eine Miniaturlichterkette an der Decke anzubringen. Dabei lief die Weihnachts-CD der McGarrigle Schwestern, und vielleicht hörte ich deswegen nicht, dass er mit seinem Schlüssel die Seitentür aufschloss.
Eine Bodendiele knarzte, ich sah hinab, und dieses Mal kam wirklich eine schattenhafte Figur auf mich zu.
„Jesus!“, schrie ich auf und geriet auf meiner Leiter fast aus dem Gleichgewicht.
„Christ!“, fügte Jake hinzu, der ebenfalls erschrocken hochsprang, dabei jedoch eher wie jemand aussah, der cool in den Kampfmodus umschaltete und weniger wie jemand, der kurz davor war, durch die Decke zu springen.
Nachdem diese zärtliche Begrüßung beendet war, beorderte er mich von der Leiter und nahm meinen Platz unter den Deckenbalken ein. Ich nahm unser Essen mit nach oben, leerte die durchgeweichten Pappbehälter in eine Pfanne, um sie später zu erhitzen, und warf einen kurzen Blick auf die DVD.
„Ich setze auf die Aliens“, rief ich und stieg die Treppe wieder hinunter.
„Nö“, rief Jake ernsthaft zurück. „Auf keinen Fall. Alles, was die Aliens haben, ist Blut aus Säure. Die Predatoren haben eine Rüstung und können sich unsichtbar machen.“
Ah ja. Mir wurde klar, warum Jake für die Predatoren stimmte. Es geht doch nichts über Unsichtbarkeit, wenn man sie braucht.
Er hatte es schon geschafft, die Lichter im hinteren Teil des Ladens aufzuhängen. Ich wühlte die Girlande aus künstlichen Pinienzapfen aus einem der staubigen Pappkartons hervor und drapierte sie kunstvoll über dem ebenfalls künstlichen Kamin. Wir arbeiten gemeinsam eine ganze Zeit lang in kameradschaftlichem Schweigen. Kein Wort über seinen Fall, kein Wort über meinen eigenmächtigen Vorstoß. Musik erfüllte den Laden.
„Rufus Wainwright?“, erkundigte er sich, als „What Are You Doing On New Year‘s Eve“ durch den Canyon der Buchregale flüsterte.
„Ja.“
Er grunzte missbilligend.
„Hey, was meinst du. Hast du Lust, mit zu dieser Hochzeit zu gehen?“, fragte ich möglichst beiläufig. „Ich könnte ein bisschen moralische Unterstützung gebrauchen.“
Einen Moment lang schwieg er. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, die obere Hälfte seines Körpers war im Schatten.
Hastig ergänzte ich: „Ich meine, als ganz normaler Gast. Als Lisas Freund.“ Das hieß, nicht als mein persönlicher Gast, und das wiederum hieß, dass seine Hetero-Tarnung nicht auffliegen würde.
„Äh, sicher“, sagte er vage. „Das könnte ich tun.“ Er beugte sich vor und sah mich an. „Wie sieht das aus?“
„Großartig.“
Er warf mir das Verlängerungskabel zu. „Versuche mal, das einzustöpseln.“
Die Steckdose befand sich hinter dem großen Mahagoni-Tresen, der einst als Empfangstresen des Hotels gedient hatte. Ich steckte den Stecker hinein und spürte augenblicklich, wie ein komischer, an- und abschwellender Stoß durch meinen Körper schoss. Das Kabel fiel mir aus der Hand, obwohl ich – glaube ich – meine Finger nicht bewusst bewegt hatte.
„Scheiße! Ich habe einen Schlag bekommen.“ Ich hockte mich mit viel zu schnell hämmerndem Herzen nach hinten auf meine Fersen, dachte Scheiße, Scheiße, Scheiße. Nicht gut …
„Geht es dir gut?“ Jake sprang von der Leiter, lief um den Tresen herum und hockte sich mit angespanntem Gesicht vor mich.
Ich wartete, ob mein Herz aufhören würde, zu stolpern und zu stottern. Es galoppierte weiter, und versuchte, der Gefahr davon zu laufen.
„Okay, Baby?“
Ich holte probeweise Luft, nickte.
Er legte seine schwielige Hand an meine Wange und hob mein Gesicht an, so dass unsere Augen sich trafen.
„Sicher?“
„Ich glaube schon.“
„Warum lehnst du dich nicht an?
Ich ließ mich zu Boden sinken und lehnte mich behutsam an den Tresen. Ich holte noch mal vorsichtig Luft. Mein Herz verlangsamte sich. Ich entschied, dass es mir gut ging, nur der Schreck saß mir noch in den Knochen. Und meine Hand kribbelte immer noch. Ich ballte sie zur Faust.
„Du hast Glück gehabt, dass du das Kabel losgelassen hast. Das passiert nicht immer.“
Ich nickte. Glücklich, dass ich das Kabel losgelassen hatte. Nicht so glücklich, dass ich einen Elektroschock bekommen hatte. Ich dachte an das Pentagramm auf meiner Türschwelle.
Jake beäugte mich wie auf der Suche nach einem Konstruktionsfehler. Ich grinste ihn schief an.
„Beruhige dich.“
Ich nickte. „Sorry. Habe mir irgendwie selbst Angst eingejagt.“
„Ohne Scheiß.“ Er runzelte die Stirn. „Was hast du gemacht?“
„Nichts. Es lag nicht an mir. Niemand hat was gemacht. Die Leitungen sind alt, das ist alles.“
Sein Mund zuckte.
„Die vom Gebäude. Nicht meine!“, stellte ich klar.
An diesem Abend war das Vögeln eher ein Liebemachen. So langsam und so süß. Wir ließen uns viel Zeit beim Streicheln, Petting, Küssen. Hände strichen durch Haare, brachten Gesichter einander näher, dazu der Geschmack von Lippen und Zungen, sanfte Bisse und leises Atmen und träges, genießerisches Schlucken. Freundliches Nasenstupsen, Wimpernschläge, der langsame, stille Austausch von Atemzügen. Ein kleiner Kokon aus sinnlichem Entzücken – und vielleicht noch etwas mehr.
Aber schließlich pressten wir uns aneinander, Lust verknüpfte sich mit Hunger und Leidenschaft und dem Verlangen, das immer ganz nah an der Angst war. Ich legte die Arme um ihn, seinen breiten, muskulösen Rücken, wölbte mich ihm entgegen und spürte die harte Sonde seines Schwanzes an meinem Bauch. Keine Fragen mehr jetzt, die Antworten waren zu offensichtlich.
Jake murmelte in mein Ohr: „Mein Gott, ich …“
„Ich auch.“
Ich rutschte mit gespreizten Knien nach hinten, lächelnd trotz meiner Müdigkeit, und meine Fingerspitzen glitten über die flache harte Ebene seiner Brust und griffen wieder nach ihm.
Aber er drückte er mich ohne Grobheit nach hinten in die Kissen. „Nee. Entspann dich einfach.“
Nee? „Aber …“
„Halt … einfach die Klappe …“ Er beugte sich über mich, suchte meinen Mund und küsste den Worten den Stachel weg. „Und … entspann dich.“ Seine Lippen wanderten sacht mein nacktes Fleisch hinab, pressten winzige, schmelzende Küsse auf mein Kinn, meinen Hals, Schlüsselbein, Brustkorb, Bauch, die empfindliche Verbindung von Leiste und Oberschenkelinnenseite. Ich erschauerte. Er hatte noch nie … würde er …?
„Sehr hübsch, Adrien“, flüsterte er. „Jeder Zentimeter von dir.“ Und er küsste den Kopf meines Schwanzes, der sich peinlicher Weise ihm entgegen zu strecken schien.
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