In der Schule taten die anderen, als wäre alles wie immer. Zwar wussten alle, was passiert war, denn unser Ort war klein und Neuigkeiten sprachen sich meistens schnell herum. Es sprach mich aber niemand darauf an, und ich wollte auch gar nicht darüber reden. Das Getuschel und die Blicke hinter meinem Rücken versuchte ich, zu ignorieren.
Der gemeine Luis aus der Nachbarklasse, vor dem man sich besser in Acht nahm, weil er einem richtig fest in den Arm kniff oder an den Haaren zog, wenn er schlechte Laune hatte, was ziemlich oft vorkam, schrie mir einmal auf dem Nachhauseweg: „Deine Mama ist in der Klapse, die ist verrückt!“, hinterher und brachte mich damit zum Heulen.
Ich wusste nicht, was Klapse bedeutet, aber meine Mama war ganz sicher nicht verrückt. Luis war einfach nur fies.
Papa hatte gesagt, Mama sei krank und im Krankenhaus würde sie gesund gemacht. Daran hielt ich mich fest, das wurde mein Mantra. „Im Krankenhaus wird Mama gesund.“ Ich sagte es in meinem Kopf immer siebenmal ganz schnell hintereinander. Wenn ich es immer siebenmal sagte, beruhigte mich das und ich wusste, es würde alles gut werden. Sieben war eine gute Zahl. Im Gegensatz zu vier, vier machte alles unschön und unsicher. Vier mochte ich überhaupt nicht. Ich begann, auch andere Sachen zu zählen, zum Beispiel die Pflastersteine auf dem Weg zur Schule. Das dauerte ziemlich lange, und ein paar Mal kam ich deswegen auch zu spät. Aber es beschäftigte und beruhigte mich. Ich mochte es, wenn die Dinge geordnet und immer gleich waren. Veränderungen waren gefährlich. Dann konnte es zum Beispiel passieren, dass eine Mama nicht mehr da war.
Wahrscheinlich war es in dieser Zeit, als ich lernte, mich unsichtbar zu machen. Zwar war ich auch schon vorher ein eher stilles, ernsthaftes Kind gewesen. Ich hatte früh gelernt, gut zu beobachten und zu erkennen, was Anzeichen für gute Tage waren (offene Vorhänge, Geräusche im Haus, Essen auf dem Herd), und wann ich besonders lieb und still sein musste, weil Mama schlafen musste und keinen Lärm ertragen konnte (sicherstes Anzeichen: as Fehlen jeglicher Geräusche im Haus, als hielten selbst die Teetassen im Küchenschrank die Luft an, und es kam einem so vor, als tickte sogar die Uhr leiser). Aber an guten Tagen war ich auch fröhlich und ausgelassen wie alle Kinder.
In dieser Zeit aber gab es wenig Grund für mich, zu lachen. Das Haus war bis auf mich und Frau Hansen meistens leer. Mein Vater war häufig auf Dienstreise und verbrachte die wenige Zeit, die er zu Hause war, in der Regel in seinem Büro. An manchen Wochenenden besuchte er Mama im Krankenhaus, wohin er mich aber nie mitnahm, weil es Mama noch nicht gut genug ging für zwei Besucher.
Nach ein paar Wochen sagte mir mein Vater, dass meine Mutter nun in ein anderes, weiter entfernt gelegenes Krankenhaus gebracht werde, um sich zu erholen. Ich stellte mir vor, dass Mama nun wie eine Königin in einem Himmelbett schlafen würde, nur die besten Speisen bekäme und von vorne bis hinten bedient würde.
Über all das konnte ich mit niemandem sprechen. Enge Freunde hatte ich nicht, da ich nie jemanden mit nach Hause gebracht hatte. Das Risiko, dass Mama einen Regentag haben könnte, war unkalkulierbar für mich. Ohnehin war ich schüchtern und traute mich nicht, jemanden zu fragen, ob er mich besuchen wolle. Die anderen Kinder beachteten mich wenig. Für sie war ich die stille, langweilige Jella, die gute Noten hatte, schlecht in Sport war und ihre Nase in der Pause meistens in ein Buch steckte. Das war schon alles, was sie über mich wissen mussten. Uninteressant.
*
Anni
Gerade in dieser Zeit, als ich das Gefühl hatte, dass sich über mein Leben eine dicke, dunkle, bedrohliche Gewitterwolke geschoben hatte, passierte dann aber etwas, das wieder Licht zu mir brachte. Richtiges, helles, strahlendes Sonnenlicht.
Wir hatten Mathe bei Herrn Dorn. Er schrieb Gleichungen an die Tafel, irgendwas Kompliziertes mit a, b und c, und ich beobachtete eine dicke Hummel, die auf dem Fensterbrett neben meinem Platz gelandet war. Die Hummel spazierte schon eine ganze Weile hin und her und startete immer wieder kurze Flugmanöver, um nach draußen zu gelangen, wo grüne Büsche und bunte Blumen auf sie warteten. Da das Fenster geschlossen war, kam die Hummel natürlich nicht hinaus, versuchte es aber immer wieder. Sie tat mir leid und ich fasste den Plan, sie in der Pause nach draußen zu bringen.
Plötzlich wurde die monotone Stimme meines Lehrers durch das Öffnen der Tür unterbrochen. Unsere Schulleiterin Frau Henkel kam herein. Ihr folgte ein kleines, rundliches Mädchen in einem so bunten Kleid, das einem fast die Augen vom Hinschauen tränten. Darunter steckten ihre Beine in einer verwaschenen Jeans und an den Füßen trug sie Turnschuhe, aus denen zwei unterschiedliche Socken ragten. Sie hatte braune, halblange, wild gelockte Haare, die ihr in lustigen Kringeln über die Schulter fielen, und Sommersprossen auf der Nase. Ihre grünen Augen lachten freundlich. Ich mochte sie sofort.
„Kinder, ihr habt eine neue Mitschülerin“, sagte Frau Henkel mit ihrer tiefen Stimme. Frau Henkel sah aus wie ein Mann und benahm sich auch so, weswegen es immer wieder von haltlosem Gekicher begleitete Spekulationen von uns Kindern gab, dass Frau Henkel in Wirklichkeit auch ein Mann WAR und sich nur als Frau VERKLEIDETE. Was dazu führte, dass, sobald Frau Henkel den Mund aufmachte, um etwas mit sonorer Stimme kundzutun, garantiert mindestens einer von uns anfing loszugackern.
Auch jetzt braute sich das übliche Gekicher über uns zusammen, die Ersten machten schon glucksende Geräusche. Karl, der in der letzten Reihe saß, gab Brummgeräusche von sich, die Frau Henkels Bass nachahmen sollten. Wie immer ließ sie sich dadurch in keiner Weise beeindrucken.
„Ihr bekommt eine neue Mitschülerin. Das ist Anni.“ Sie deutete auf das Mädchen neben sich. „Sie ist gerade mit ihrer Familie hierhergezogen. Ihre Mutter ist die neue Pastorin der evangelischen Kirche in Oststeinwerder, in der jetzt endlich wieder Gottesdienste stattfinden können. Ihr wisst ja, wie lange die Stelle unbesetzt war.“ Hier schaute sie missbilligend. Jeder wusste, dass Frau Henkel sich sehr im Kirchenrat engagierte und schon oft und laut ihre Meinung kundgetan hatte, dass es ein Unding sei, die Stelle der Pfarrei im Nachbarort so lange unbesetzt zu lassen. Dann blickte die Schulleiterin prüfend in die Runde und blieb an dem leeren Platz neben mir hängen. Neele, die sonst neben mir saß, war gerade krank und ihr Platz somit leer.
„Du kannst dich dorthin setzen, neben Jella. Sie wird dir alles zeigen und sich um dich kümmern, bis du dich bei uns zurechtgefunden hast, Anni.“ Aufmunternd nickte sie Anni zu, drehte sich um und verließ dann in gewohntem Stechschritt das Klassenzimmer.
Der Aufmunterung hätte es allerdings gar nicht bedurft, denn Anni fühlte sich sofort heimisch bei uns in der Klasse. Sie erzählte, dass sie schon mehrere Male umgezogen sei, weil das bei Pastoren so üblich sei. Dadurch würde sie immer wieder neue Freunde finden. Ihr Papa arbeite zu Hause, das sei super, denn so sei immer jemand da, der sich um Anni und ihre drei (!) Brüder kümmern konnte, wenn ihre Mutter nicht zu Hause war. Ich war beeindruckt. Vier Kinder! Das war bestimmt immer richtig trubelig und fröhlich bei denen. Ganz anderes als in meinem stillen Zuhause!
Annis fröhliche, unbefangene Art faszinierte mich sofort. Und das Wunder geschah: Wir freundeten uns an! Anders als die anderen Kinder fand sie mich nicht langweilig und störte sich nicht an meiner stillen Art. Sie stellte mir einfach ununterbrochen Fragen und so redete ich automatisch. Es war faszinierend. Noch nie hatte jemand so viel über mich wissen wollen. Anni interessierte sich einfach für alles – was ich gerne aß, was meine Lieblingsfarbe war, ob ich Geschwister hatte und ob ich Mathe nicht auch so blöd und überflüssig fand.
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