Es bleibt aber unklar, ob Festlegungen für Verhaltenssüchte im Allgemeinen auch für die Sportsucht gelten können. Diesbezüglich wurde in diesem Abschnitt beispielsweise das Kriterium Toleranzentwicklung kritisch diskutiert. Auch bleibt unklar, ob es unter den genannten Kriterien solche erster Ordnung (also besonders bedeutsame) gibt, die im Vergleich zu anderen Kriterien eine stärkere Berücksichtigung im Rahmen der Diagnose besitzen sollten (
Kap. 6). In jedem Fall zeigen die genannten Aspekte auf, dass für die Feststellung einer behandlungsbedürftigen Sportsucht die vielfältigen, sehr unterschiedlichen psycho-sozialen Bedingungen sorgfältig, genau und differenziert betrachtet werden müssen – die in der Öffentlichkeit gern vorgenommene ausschließliche Orientierung am Kriterium »exzessives Sporttreiben« reicht bei weitem nicht aus.
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Epidemiologie der Sportsucht
Jens Kleinert
Die schlechte Nachricht zuerst: Zahlen zur Häufigkeit bzw. Auftretenswahrscheinlichkeit (Prävalenz) der Sportsucht sind bis heute kaum verlässlich. Hierfür lassen sich zwei Hauptgründe feststellen, die insbesondere in der Vorgehensweise der Forschung begründet sind: Erstens ist die Art und Weise, wie Sportsucht erfasst bzw. gemessen wird, problematisch. Eine Seite des Problems ist hierbei, dass uneinheitlich gemessen wird, also mit unterschiedlichen Fragebögen oder anderen Methoden. Die andere Seite des Problems ist, dass die verwendeten Messmethoden die Sportsucht nicht verlässlich genug, also nicht genau oder eindeutig genug, erfassen. Kurz: Aus dem Ergebnis eines Fragebogens oder einer anderen Methode lässt sich das Vorliegen einer Sportsucht nicht eindeutig ableiten. Der zweite Hauptgrund für die unklaren Befunde der Epidemiologie liegt in den Untersuchungsgruppen, in denen die Häufigkeit von Sportsucht bislang überprüft wurde. Diese Gruppen sind nicht repräsentativ für Sporttreibende oder für die Gesamtbevölkerung; stattdessen wurden in den Untersuchungen zumeist sehr spezifische Sportarten untersucht, weswegen sich die Ergebnisse nur bedingt auf andere Sportarten und natürlich auch nicht auf die Gesamtbevölkerung übertragen lassen. Beide Gründe, also das Problem der uneinheitlichen und ungenauen Messung sowie das Problem der selektiven und wenig repräsentativen Untersuchungsgruppen, werden in diesem Kapitel behandelt.
Eine weitere Schwierigkeit in der Erfassung von Sportsucht besteht darin, dass Verhaltenssüchte häufig maskiert, das heißt nicht ohne weiteres zu entdecken, sind. Diese Maskierung ist damit begründet, dass das problematische Verhalten grundsätzlich eine gewisse Normalität beinhaltet: Essen, Einkaufen, Sporttreiben sind normale menschliche Verhaltensweisen, weswegen normale und krankhafte Ausprägungen bei Sportsucht oder anderen Verhaltenssüchten eng beieinander liegen (Egorov und Szabo 2013) und daher Übergänge zwischen gesund und krank fließend sein können und zudem vom Kontext (z. B. Leistungs- oder Freizeitsport) abhängen. Diese Verschmelzung erschwert die Abgrenzung von gesund und krank.
Trotz der geschilderten Probleme lohnt es sich, die Forschungslage zur Epidemiologie von Sportsucht aufzuarbeiten. Zwar zeigt die Forschung noch kein abschließendes, epidemiologisches Bild, allerdings können im vorliegenden Kapitel zwei Ziele erreicht werden. Erstens hilft die Beschreibung der Problemlage im Zusammenhang mit der Betrachtung von Prävalenzen dabei, Forschungslücken und hiermit notwendige, zukünftige wissenschaftliche Arbeiten abzuleiten. Und zweitens hilft das Zusammentragen der bestehenden Datenlage ein erstes, wenn auch vorläufiges und nicht allgemeingültiges oder in allen Fällen übertragbares Bild über die Auftretenswahrscheinlichkeit von Sportsucht zu erstellen.
3.1 Zur Methodik im Rahmen der Epidemiologie der Sportsucht
Die Epidemiologie der Sportsucht wird in der Literatur nicht als eigenständige Zielstellung von Forschung verfolgt. Stattdessen sind Zahlen zum Ausmaß und zur Häufigkeit eher Nebenaspekte anderer Forschungsziele, zum Beispiel der Erforschung von Risikofaktoren oder Konsequenzen von Sportsucht. Zugleich wird hiermit an Messinstrumente zur Erfassung von Sportsucht kein strenger klinischer Standard angelegt. Dieser Standard scheint aus Sicht vieler Forscher/innen nicht notwendig, da es für die in den Forschungsarbeiten befragten einzelnen Sportler/innen keine (therapeutischen) Konsequenzen hat, wenn sie fälschlich als sportsüchtig oder als unauffällig bzw. gesund bezeichnet werden. Bedeutsam ist lediglich die Verlässlichkeit des Gesamtwertes (nicht der einzelnen fallbezogenen Aussage). Im Gegensatz dazu erfordert die klinische Praxis (
Kap. 5.3) auch im Einzelfall eine genauere und möglichst verlässliche Messung von Sportsucht (d. h. eine »Diagnostik«), aus der mit einer hohen Wahrscheinlichkeit eine therapeutische Konsequenz erwächst. Zusammengefasst kann also gesagt werden, dass Fragebögen zur Sport- und Bewegungssucht vor allem für Forschungszwecke entwickelt wurden. Sie genügen daher häufig zwar den Kriterien guter Forschung (z. B. bezüglich der theoretischen Herleitung der Fragebogenstruktur oder der einzelnen Aussagen/Fragen des Bogens oder der Konsistenz bzw. Reliabilität von Unterkategorien), jedoch nicht den Kriterien guter klinischer Praxis. Insbesondere besitzen sie keine klinisch verlässlichen Cut-Off-Werte, also Werte, ab denen mit hoher Wahrscheinlichkeit im Einzelfall eine klinisch behandlungsbedürftige Sportsucht angenommen werden kann (Sensitivität des Tests;
Kap. 6.1). Stattdessen lassen die Fragebögen nur eine Risikoabwägung zu. So ergibt sich beispielsweise für die »Exercise Dependence Scale« (EDS; Hausenblas und Symons Downs 2002b) anhand der Auswertung eine dreistufige Kategorisierung in »at risk for exercise dependence«, »nondependend-symptomatic« und »nondependend-asymptomatic« (für den deutschen EDS-D s. Zeeck et al. 2013).
Die zuvor beschriebene fehlende klinische Verlässlichkeit von bestehenden Messinstrumenten liegt zum Teil auch daran, dass Kriterien für Sportsucht nicht eindeutig definiert sind (Terry et al. 2004) und in verschiedenen Fragebögen durch unterschiedliche Fragen oder Aussagen umgesetzt werden. So ist bis heute unklar, ob Kriterien, die für Verhaltenssüchte typisch sind, in gleicher Weise auch auf die Sportsucht zutreffen. Ein Beispiel hierfür ist das Kriterium von Zwangserleben oder Entzug: Zwang wird in manchen Fragebögen zur Sportsucht operationalisiert, indem gefragt wird, ob man mehr Sport treibt, als man sich vorgenommen hatte. Bei Kenntnis des Leistungssports erweist sich dies nur sehr bedingt als gute Frage für einen behandlungsbedürftigen Zwang (Symons Downs et al. 2004). Ein weiteres Beispiel: Bezogen auf Entzugssymptome fragen einzelne Sportsuchtinstrumente, ob man Sport treibt, um sich weniger gereizt oder angespannt zu fühlen (Symons Downs et al. 2004). Wenn dies ein Kriterium für Sportsucht wäre, würden viele Gesundheitssportler Entzugssymptome besitzen. Auch aufgrund solcher problematischen Ansätze, Sportsucht zu erfassen, werden positive Zusammenhänge zwischen gesundheitsbezogenen (und positiv zu bewertenden) Sportmotiven und einer auf diese Art gemessenen »Sportsucht« gefunden und kritisch diskutiert, »denn in manchen Aspekten überschneiden sich die erfragten Symptome von Sportsucht mit Verhaltensweisen, die sich zwangsläufig aus intensivem sportlichen Training ergeben« (Zeeck et al. 2013, S. 104). Entsprechend dieser Problematik müssen insbesondere Fragebögen zur (vermeintlichen) Erfassung von Sportsucht mit kritischer Distanz beurteilt werden (
Kap. 5.1).
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