Je niedriger die soziale Schichte, desto stärker sind – nicht nur in England – die Vorurteile. Lloyd George, ein „kleiner Mann“, Methodist-Baptist, Waliser ohne public school Erziehung, sah in den Ausländern queer devils , 19)aber auch Stanley Baldwin, ein anderer Premier, war nicht viel besser: Nachdem er seinen Abschied genommen hatte, gestand er Douglas Woodruff in 10 Downing Street, wo er schon die Koffer gepackt hatte, daß er der glücklichste Mann auf dem Erdboden sei. Warum? „Weil ich nie mehr in meinem Leben etwas mit einem Ausländer zu tun haben werde!“ 20)Und dieser Mann hatte in einer der kritischesten Zeiten eine führende Stellung in einem Weltreich. Die Insularität – gar keine so „splendid isolation“! – Englands hat wahrlich keine Grenzen.
Das sind alles Dinge, die man sich vor Augen halten muß, um die britische Außenpolitik der Vergangenheit richtig zu verstehen. Dem Insularismus mit dem Wunsch sich abzusondern und zurückzuziehen steht allerdings auch ein Messianismus gegenüber, der zwar schwächer als der amerikanische oder russische, sicherlich auch weniger aggressiv als der deutsche ist („Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!“), aber immer stark genug war, um allen Ortes Unheil auszulösen, denn dank der universalen Anglomanie wurde dem britischen Druck nur geringer Widerstand entgegengesetzt. Dieser britische Messianismus hat sich vielleicht am konkretesten in der British-Israel-Society geäußert, die uns glauben machen will, daß die Briten der verlorene zwölfte Stamm Israels und deshalb zur Weltherrschaft berufen wären. Doch auch der Wunsch, die Hoffnung, daß man alle Völker der Welt in britisch-politischem Sinn sanft und artig umerziehen könnte, ist offen oder versteckt, bewußt oder unbewußt immer da gewesen. Dabei aber hat (trotz allem Cant ) der Engländer einen echt moralistischen Zug, der auch in der Außenpolitik immer wieder (zumal auch fatal) zum Ausdruck kommt; dem Unterdrückten, dem underdog , sollte immer und überall geholfen werden. Keine Beschwerde auf dem weiten Erdenrund fiel deshalb in England auf taube Ohren, und es wäre verfehlt zu glauben, daß nicht auch Anklagen gegen die britische Herrschaft in England ihre Anwälte fanden. Es haben Briten gegen die Unterdrückung der Iren genau so wie gegen die Verwaltung in Indien protestiert. Freilich, manchmal fanden auch unwürdige Anliegen irregeleitete Verteidiger, was nicht zu vermeiden war; Engländer haben oft für gute, aber auch manchmal für schlechte Sachen als Freiwillige ihre Haut zu Markt getragen. 21)Man muß anerkennen, daß während des Zweiten Weltkriegs in England Stimmen gegen den unbeschränkten Vernichtungskrieg aus der Luft sehr laut geworden waren. 22)Neben dem Cant gab es immer auch große Ehrlichkeit und größten Bekennermut. So ist auf den britischen Inseln nicht wie in Skandinavien oder Norddeutschland die katholische Kirche sang- und klanglos untergegangen: Die Agonie der Kirche dauerte dort fast 180 Jahre und einzelne Gruppen „überwinterten“ trotz größter Unterdrückung, Einschränkung und Verfolgung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als die ersten Erleichterungen kamen. 23)
Die unterschwelige Angst vor dem Kontinent, von dem immer eine Invasion drohen konnte – die letzte fand 1066 statt –, vor einer neuen Armada, beherrschte einen guten Teil der Außenpolitik bis auf unsere Tage. Daher auch das in der Außenpolitik so beliebte Konzept des balance of power , des Gleichgewichts der Mächte am Kontinent. Dieses Prinzip des Divide et Impera hat aber auch jedwede Einigung Europas auf friedlicher oder kriegerischer Basis vereitelt, schaffte aber wiederum innerhalb Englands einen Antieuropäismus, der heute zwar zurückgedrängt, aber lange noch nicht abgestorben ist. Man findet ihn sowohl auf der äußersten Rechten als auf der äußersten Linken mit den verschiedensten Vorzeichen, aber doch gemeinsamer Wurzel.
Die Schotten fühlen sich sehr anders als die Engländer; sie glauben zwar, nicht geographisch, aber kulturell am Kontinent zu sein. Die vorherrschende Konfession Schottlands ist nicht die episkopale Church in Scotland , sondern die Church of Scotland , die presbyterianisch ist und deshalb als echte Schwesterkirche der reformierten Glaubensgemeinschaften der Niederlanden, Frankreichs, der Schweiz und Ungarns betrachtet wird. Auch der Prozentsatz der Katholiken in Schottland ist höher als in England; nicht nur haben wir dort eine relativ größere irische Einwanderung, sondern auch rein katholische Dörfer (manche mit gälischer Sprache) auf den Hebriden und in den Highlands, kein einziges aber in England. Der Geist des Relativismus und des Kompromisses, den Engländern so teuer, ist in Schottland viel weniger vorhanden. 24)
Alldies gilt noch viel mehr für Irland, das einst den halben Kontinent missioniert hatte; die irischen Mönche hatten nicht nur große Teile der deutschen Länder bekehrt, 25)sondern hatten auch in Rom ihren Einfluß spirituell und theologisch geltend gemacht. 26)Nach den Siegen Cromwells und Wilhelms III. (durch Schomberg in der Schlacht am Boyne-Fluß, 1690) sind zahlreiche irische Adelige in das katholische Europa geflohen, wo sie im Militär und in der Politik wichtige Rollen spielten. Man denke da nur an Generäle wie Butler, Browne, McNevin-O’Kelly , Nugent, MacDonald, MacMahon, Politiker wie O’Donnell und Taaffe oder Kirchenfürsten wie O’Rourke. Doch gerade wegen der konfessionellen Intoleranz der Engländer (und auch der Schotten) war die Integrierung Irlands in das „Vereinigte Königreich“ stets problematisch geblieben und führte schon vor der erschwindelten Vereinigung des irischen mit dem britischen Parlament (1801) zu Rebellionen und schließlich zu Aufständen großen Stils. Unbereinigt und eine offene Wunde am Vereinigten Königreich ist das Problem Nordirlands oder, um genauer zu sein, Nordostirlands, denn der nördlichste Punkt Irlands liegt am Rande der Republik. 27)
Die größere Kontinentalnähe Irlands merkte man vor allem bei dem Referendum über den Beitritt des Landes zur Europäischen Gemeinschaft. 83 Prozent sprachen sich hier dafür aus. (Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gingen in England-Schottland beim vorletzten Mal hingegen nur 37 Prozent zu den Urnen.)
16. DAS PULVERFASS: DER ALTE BALKAN
Wie entwickelte sich der Balkan in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg? Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts war noch die ganze Balkanhalbinsel mit der Ausnahme Dalmatiens und der Ionischen Inseln in türkischen Händen, doch wurde die eigentliche Herrschaft in den „Schwarzen Bergen“ („Montenegro“, Crna Gora ) von Bischöfen der Familie Petrović-Njegoš, den Wladykas, ausgeübt. Die Erbfolge ging von Onkeln auf Neffen über. Nach den napoleonischen Kriegen errangen die Serben der Šumadija, des Waldlandes südlich der Donau und Save, eine Autonomie. Geführt wurden sie vom „Schwarzen Georg“, dem Kara Ðorđe, der eine moralische und materielle Hilfe von den österreichischen, genauer gesagt, von den ungarischen Serben genoß. Wie wir schon sagten, lebten zahlreiche Serben in Kroatien-Slawonien und in Südungarn, wohin sie aus der Großtürkei geflohen waren. Deren kirchliches Zentrum war Karlowitz (Sremski Karlovci) im östlichen Slawonien, deren kultureller Mittelpunkt aber Wien. Vuk Stefanović Karadžić, der die serbische Zyrilliza durch weitere Buchstaben ergänzte und eine serbische Schriftsprache zu schaffen bestrebt war, hatte hauptsächlich in Wien gewirkt, wo er auch gestorben ist.
Im tiefen Süden der Balkanhalbinsel rührten sich alsbald die Griechen, die sich mit viel Sympathie aus allen Kreisen Europas, nicht aber der Stockkonservativen, die Freiheit erkämpften. Sie errangen sie aber nur für den Peloponnes, Attika, Böotien und die anliegenden Teile. (Auch die Unabhängigkeit Belgiens wurde von den Konservativen 1)keineswegs begrüßt.) Man fürchtete „Veränderungen“ und wollte an dem Status Quo nicht rütteln. Freilich war dieses noch sehr kleine, freie Griechenland von der Verwirklichung der Megale Idea , der Wiedererrichtung des byzantinischen Reiches mit Konstantinopel als Hauptstadt, noch sehr weit entfernt. Eine verrückte Idee? Nicht ganz. Damals waren die Griechen immer noch die größte ethnische Gruppe in der „Kaiserstadt“, und auch die Ostküste der Ägäis war überwiegend von Griechen besiedelt. Smyrna war selbstverständlich eine überwiegend griechische Stadt.
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