Hier muß man sich auch vor Augen halten, daß sich das alte „kaiserliche“ Osmanenreich zwar durch große Brutalitäten auszeichnete, daß die Sultane immer wieder scheußlichen Palastintrigen zum Opfer fielen, 2)sich immer wieder sadistische Revolutionen und Verschwörungen ereigneten, im Staat aber dennoch eine nationale und politische Toleranz eigener Prägung herrschte. So wurden die Massaker der Armenier erst wirklich bestialisch, als die Türkei sich demokratisierte und die Jungtürken mit ihrem Schlagwort „Einigkeit und Freiheit“ die Regierung übernahmen. Diese waren allerdings noch nicht so ‚fortschrittlich‘ wie die „Kemalisten“, die nach dem Ersten Weltkrieg die Monarchie abschafften und durch eine laizistische Republik ersetzten.
In der alten Monarchie konnten die christlichen Minderheiten trotz ganz bestimmter gesetzlicher Beschränkungen bei nur einiger Geschicklichkeit reich werden oder auch in der Verwaltung Karriere machen. So waren die Gouverneure der Donaufürstentümer (Walachei und Moldau), die „Hospodare“, fast immer Griechen aus dem Phanar, einem Stadtteil Konstantinopels. Die Finanzen, ja, das Kapital, lagen zum allergrößten Teil in den Händen von Griechen, sephardischen Juden, Levantinern, 3)Armeniern und Europäern. Auch in der Diplomatie spielten die Nichttürken eine große Rolle. So war der letzte kaiserliche Botschafter in Washington, Blacque-Bey, schottischer Abstammung. Er trug einen Fez, war aber dem Glauben nach Katholik. 4)
Lange konnten am Balkan die Christen, die dort die Mehrheit bildeten und den gelegentlichen Ausschreitungen der türkischen Soldateska, der Janitscharen und später der Baschi-Bosuks ausgeliefert waren, niedergehalten werden. Die Christen hatten keine tragenden Oberschichten, denn diese waren von den Türken entweder ausgerottet oder auch zum Islam bekehrt worden. Daher auch die häufigen slawischen, albanischen oder griechischen Namen der Paschas. In Bosnien war die kroatische Oberschichte, die dem Bogomilismus gehuldigt hatte, weitgehend islamisiert worden. Bosnien hatte gegen die Türken, durch eine überaus friedliche Ketzerei geschwächt, kaum nennenswerten Widerstand geleistet. „I pade Bosna bezuzdaha – und Bosnien fiel ohne einen Seufzer“, wie es in einem Lied hieß. Diese islamisierten Kroaten behandelten ihre christlichen Konationalen einschließlich der Serben als Rayah , als Herde, als Kmeten („Knechte“). Ähnliches geschah in Zentralalbanien, während in Bulgarien ganze Gebiete (ohne sich sprachlich zu verändern) islamisierten. Diese mohammedanischen Bulgaren wurden Pomaken genannt. Wir müssen uns also den Balkan vor 1878 als ein Gebiet vorstellen, in dem es eine ganze Reihe von teilweise türkisierten und islamisierten Enklaven gab. Der Islamisierung widerstanden also Unterschichten, die nördlich des Griechentums fast rein bäuerlichen Charakters waren; sie wurden natürlich moralisch, aber auch „national“ vom Klerus unterstützt. Das lockere Benehmen der Balkanvölker in der Kirche kommt von dem Umstand her, daß man sich nur in der Kirche vor den Türken sicher wußte: Da war man ganz „unter sich“.
Doch die ganz große Verzahnung der nichttürkischen Balkanvölker bildete schon recht früh ein Hindernis zu ihrer Befreiung. Zwar war der gemeinsame Haß gegen den asiatischen Zwingherrn da, aber auch zugleich sich überschneidende nationale Aspirationen, was sich besonders im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bemerkbar machte. Rußland (und nicht mehr Österreich) erschien aus kulturellen und konfessionellen Gründen der Protektor der Balkanchristen. Die österreichische Präsenz machte sich nur noch bei den Serben fühlbar. Bemerkenswerterweise war die erste Dynastie der serbischen Fürsten die Familie Karađorđević, Abkommen des Schwarzen Georg. Sie war im Geruch, eher pro-österreichisch als russophil zu sein. Das kostete ihr auch den Thron. Nun kam die Familie Obrenovic mit russischem Etikett auf den Thron, doch wurde sie mit der Zeit austrophil. Die furchtbaren türkischen Massaker unter den Bulgaren in den Siebzigerjahren führten die russische Intervention herbei, die mit der Niederlage der Türken endete; es war aber dies, da die Türken gute Soldaten sind, ein bitterer Krieg und kein leichtes Abenteuer. Die Russen diktierten dann den Frieden von San Stefano (einem Vorort von Konstantinopel), der praktisch das Ende der türkischen Herrschaft am Balkan bedeutete. Ein Großbulgarien, in dem alle Bulgaren vereint waren, sollte entstehen.
Das aber brachte die Großmächte auf den Plan. Bismarck trat im Kongreß von Berlin (1878) als „ehrlicher Makler“ auf, und Rußland, das in Europa lediglich Südbessarabien zurückgewann, durfte zwei türkisch-armenische Kreise, Kars und Ardahan, annektieren. Doch da man in Berlin den Traum eines ethnisch-historischen Bulgariens zerbrach – und zwar nur deswegen, weil man in dem wiedererstandenen Bulgarien eine russische Satrapie vermutete –, steuerte man die neueste Geschichte des Balkans in eine falsche Richtung. Die Serben wurden ausdrücklich ermuntert sich in der Richtung von Saloniki auszudehnen und damit das vorwiegend bulgarische Makedonien einzuheimsen. Serbien erhielt 1878 nicht nur Nisch mit einer gemischten serbisch-bulgarischen Bevölkerung, sondern auch Pirot, das rein bulgarisch war: schon dadurch wurde Serbien auf eine südliche Bahn gelenkt. Doch auch die Donaumonarchie tendierte ein wenig demselben Ziel zu: sie wurde ermächtigt, Bosnien und die Hercegovina mit dem „Sandshak“ Novipazar (zwischen dem erweiterten Serbien und Montenegro) militärisch und auch zivil zu verwalten. Doch die Besetzung dieser drei Gebiete der Türkei mit ihrer großen islamischen Minderheit erwies sich als kein militärischer Spaziergang: Die Moslems wehrten sich bitter, und die christliche Bevölkerung wagte es kaum, den Österreichern zu Hilfe zu kommen. In seinen Memoiren erzählt ein k.u.k. Offizier, wie er an der Spitze der vorrückenden Truppen einen alten Moslem Beg, der zurückgeblieben war, fragte, ob die Bosniaken sich denn nicht vor der österreichischen Armee fürchten. Nein, keineswegs. „Vor wem fürchtet ihr euch denn?“ „Nur von den Montenegrinern.“ 5)
Der Türkei verblieb auf europäischem Boden ein immerhin 169 000 Quadratkilometer großes Territorium, das unmittelbar der Hohen Pforte unterstand. In Bosnien und der Hercegovina wie auch im Fürstentum Bulgarien zwischen dem Balkan und der Donau war die Souveränität des Sultans nur mehr auf dem Papier. Auch die Landschaft südlich des Balkan-Gebirges mit dem fragwürdigen Etikett „Ost-Rumelien“, erst 1908 vom Königreich Bulgarien formell annektiert, war nominell unter türkischer Oberhoheit. Thessalien wurde erst in den Achtzigerjahren von der Türkei an Griechenland abgetreten. Doch gerade dieses weiterhin noch türkische Gebiet mit einer türkischen Minderheit sollte später zum Zankapfel der wiedererstandenen christlichen Staaten werden, vor allem aber das makedonische Kernstück. Dort fand 1903 ein (hauptsächlich von Bulgaren getragener) Aufstand statt, der aber von den Türken niedergeschlagen werden konnte. Die I. M. R. O., die „Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“, wollte hier eine „Schweiz des Balkans“ aus Bulgaren, Griechen, Kutzo-Wlachen, Albanern und Türken errichten, aber die Türkei behielt vorläufig noch die Oberhand. Nur eine Allianz der christlichen Balkan-Nationen konnte die Türkei auf ein Mindestmaß in Europa reduzieren…
Aus einer Reihe von Gründen spielte der Balkan als Bedrohung des europäischen Friedens eine so folgenschwere Rolle. Da war erstens einmal die Rivalität zwischen Österreich-Ungarn und Rußland – und hinter der Habsburgermonarchie stand das Deutsche Reich. Der Bau einer Bahn nach Konstantinopel (über den sich der berühmte „Orient-Express“ bewegte) und dann von der anderen Seite des Bosporus in das damals noch türkische Mesopotamien, die sogenannte „Bagdadbahn“, erregte vor allem englische Gemüter. Der deutsche Einfluß in der Nähe Südpersiens und damit auch Indiens machte London nervös. Ein weiterer Faktor der Unruhe war das Problem der Meerengen, die von der Türkei kontrolliert wurden. Doch Rußland, stets bestrebt aus seiner Verschachtelung im Schwarzen Meer auszubrechen, trachtete, eisfreie Häfen in gesicherten Lagen zu bekommen, 6)wiewohl England über eine russische Präsenz im Mittelmeer keineswegs entzückt gewesen wäre. Ein dritter Faktor war interner Natur: die große Leidenschaftlichkeit, Wildheit und auch Grausamkeit dieser aus jahrhundertelanger Sklaverei erwachten Völker, verbunden mit ganz spezifischen Gebietsansprüchen. So hätten zum Beispiel die Großmächte in unserem Zeitalter nie die skandinavischen Staaten gegeneinander ausspielen können. Anders aber war dies am Balkan, wo es keine klaren historischen, ethnischen oder religiösen Grenzen gibt. Ja, man kann sogar sagen, daß es keine einzige eindeutige Grenze am Balkan gibt, mit der einzigen Ausnahme der historisch--ethnischen bulgarisch-rumänischen Grenze an der unteren Donau, wobei allerdings die letzte Strecke in der Dobrudscha wieder strittig ist. Das äußerst harte Leben unter der türkischen Herrschaft, die Kargheit der Böden, das mancherorts grausame kontinentale Klima, das Fehlen der humanistischen Tradition, vielleicht auch die physisch-nervliche Erregbarkeit der Balkanrassen haben hier ein wahres Pulverfaß geschaffen.
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