Dieses Beispiel veranschaulicht die Exzesse der menschlichen Sprache. Es macht aber auch deutlich, warum sich Sprache in der Spezies Mensch fortlaufend kulturell weiterentwickelt hat. Evolution bedient sich eines einfachen Prinzips: Variation und selektive Retention. Ohne Variation ist Evolution unmöglich. Dies gilt ebenso für die Evolution von Verhalten wie für die genetische Evolution. Lassen Sie uns unser Prinzip »kaufen Sie zwei, Sie bekommen vier gratis« erweitern, indem wir ein einfaches Beispiel nutzen, das Terrence W. Deacon 1998 beschrieben hat. Angenommen wir vermitteln acht Symbol → Objekt Beziehungen. Wenn Tiere Beziehungen in einer bestimmten Richtung erlernen, dann reagieren sie auch genau in diese Richtung. Wenn wir sie aber Menschen vermitteln, dann ist jede Beziehung wechselseitig erlernt. Es bestehen daher 16 Beziehungen, nicht acht. Aber alle Symbole können auch zueinander in Beziehung stehen. Und jedes Objekt kann zu jedem Objekt einen Bezug haben. Und jede Beziehung zwischen Objekten kann zu jeder anderen Beziehung zwischen Objekten in Bezug stehen (wenn z. B. zwei Dinge gleich sind, und zwei weitere Dinge wiederum gleich sind, dann sind diese Beziehungen zueinander ebenfalls Gleichheitsbeziehungen). Dasselbe gilt für Symbole. Und jedes Symbol kann durch Kombination zu jedem Objekt in Bezug stehen. Dies kann man unendlich weiterspinnen. Wie viele mögliche Beziehungen bestehen letztendlich innerhalb eines Netzwerkes mit nur acht Symbol → Objekt Beziehungen? Die unglaubliche Antwort lautet: annähernd 4.000! Nun, das ist Variation!
Dieses Chaos wird durch kontextuelle Steuerung der Herstellung von Beziehungen und kontextuelle Kontrolle über die Änderung von Funktionen gemanagt. Bisher sind Menschen nicht sehr geschickt darin, kontextuelle Kontrolle gezielt auszuüben. Einfacher ausgedrückt bedeutet dies, dass Menschen nicht wirklich gut darin sind, ihre Psyche an die Leine zu nehmen. Sie sind sehr gut darin, relationale Netzwerke zu generieren und zu erkunden. Dies ist die Quelle großer Errungenschaften auf den Gebieten der Wissenschaft, Literatur oder Philosophie. Dies ist aber auch die Quelle eines großen Teils des menschlichen Leidens. So kann es sogar angsteinflößend sein zu duschen, wenn dies innerhalb eines riesigen relationalen Netzwerks so angelegt ist.
Die Steuerung relationaler Prozesse ist für die Menschen eine große Herausforderung, sowohl individuell als auch kulturell. Die Wissenschaft der Relational Frame Theory zeigt Wege dafür auf, wie Therapeuten Sprachprozesse bewusst einsetzen können, um ihre Arbeit erfolgreicher zu machen. Diesem Thema widmen wir im Folgenden unsere Aufmerksamkeit.
1.7 Zusammenfassung des Kapitels
Dieses Kapitel stellt die Grundprinzipien dar, die Sprache mit ihren Möglichkeiten zum Aufbau symbolischer Beziehungen zwischen Objekten und Ereignissen zu einer einzigartigen Form des Lernens machen. Hier sind die wichtigen Kernaussagen, die für die Lektüre des folgenden, eher praxisorientierten Teils dieses Buches hilfreich sind:
• Der Begriff »Sprache« bezeichnet ein erlerntes Verhalten, das es ermöglicht, symbolische Bezugnahmen zu etablieren und darauf zu reagieren. Dieses Verhalten ist deswegen außergewöhnlich, weil es die Art und Weise, wie Menschen ihre Welt erleben, verändert, Objekte und Ereignisse mit Bedeutung versieht und damit ihren Einfluss auf Gedanken, Gefühle und Handlung verändert.
• Beziehungen herzustellen bedeutet, auf eine Sache in Abhängigkeit von einer anderen Sache zu reagieren. Einige Tierarten sind in der Lage, spezifische Beziehungen herzustellen oder auch zu lernen, wie sie Dinge anhand intrinsischer Merkmale zueinander in Beziehung setzen können. Aber nur der Mensch kann symbolische Beziehungen herstellen. Die Fähigkeit, Dinge symbolisch miteinander in Beziehung zu setzen, erhöht die Effizienz, mit der Menschen lernen, in dramatischer Weise. Ganze Netzwerke abgeleiteter Beziehungen können sich aus einer kleinen Anzahl erlernter Beziehungen ergeben.
• Symbolische Beziehungen »formen« (frame) menschliche Erfahrungen und verändern dadurch deren Bedeutung und Auswirkung. Menschen kombinieren die Informationen, die in diesen verschiedenen Beziehungen enthalten sind, und leiten daraus ein umfangreiches Netzwerk von Bedeutung und Verstehen ab. Die Art und Weise, wie Menschen innerhalb dieses Netzwerks über Dinge denken, fühlen und handeln, wird stark durch deren symbolische Beziehung zu weiteren Objekten und Ereignissen beeinflusst.
• Relationales Lernen ergibt sich aus einer Kombination von Evolution und einer besonderen Art von operanter Lerngeschichte. Menschen lernen, Objekte und Ereignisse eher auf der Basis sozial etablierter Hinweisreize miteinander in Beziehung zu setzen. Dies geschieht weniger auf der Grundlage der intrinsischen Eigenschaften der Dinge. Das macht Sprache zu einer Form der Zusammenarbeit. Sprache fußt hier auf der sozialen Natur menschlicher Gruppen und verstärkt somit eine Kultur prosozialen Verhaltens, in der Menschen gedeihen können.
• Symbolisches Verhalten basiert ursprünglich auf Kontingenzlernen. Trotzdem verändert es die Auswirkung aller Lernformen dadurch, dass symbolische Beziehungen die Art und Weise verändern, wie vorangehende und nachfolgende Stimuli den Lerneffekt beeinflussen.
• Es gibt viele Arten symbolischer Beziehungen oder »Bezugsrahmen«, beispielsweise der Koordination, der Unterscheidung, des Gegensatzes, des Vergleichs, der Hierarchie und der Perspektivübernahme. Sie alle können an Analyse und Lösung von therapeutischen Problemen beteiligt sein.
• Symbolische Beziehungen sind nicht schlichtweg als einfache Worte zu sehen – sie sind stark mit nahezu allem verwoben, was für Menschen bedeutungsvoll ist. Gedanken und mentale Bilder, Erinnerungen, Meinungen, Stimmung und Affekt, Selbstwahrnehmung und Bewusstsein sind abhängig von symbolischen Beziehungen. Dieser Denkansatz erlaubt es Therapeuten auf eine kohärente und wirksame Weise, mit einer geringen Zahl von behavioralen Prinzipien ein breites Spektrum von Störungen zu behandeln.
• Die meisten Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen, die für den therapeutischen Prozess von Bedeutung sind, beinhalten ein Zusammenspiel von symbolischen Beziehungen und anderen, erlernten und nicht erlernten Prozessen. Therapeuten können das Thema Sprache nicht vermeiden. Selbst dann nicht, wenn Sprache nicht zu den zentralen Bestandteilen ihrer Therapiemethode gehört. Selbst Methoden, die Stille betonen, Imagination nutzen, Hypnose induzieren oder Achtsamkeitsübungen durchführen, entfalten ihre Wirkung dadurch, dass sie symbolische Beziehungen einsetzen.
• Die Fähigkeit, symbolische Beziehungen abzuleiten, sowie die Veränderungen der Hinweisreize durch symbolische Beziehungen, eröffnen eine Vielfalt von Verhaltensmöglichkeiten und stellen so ein enormes evolutionäres Potenzial dar. Sprache ist die Quelle der größten menschlichen Errungenschaften, aber sie ist auch die Quelle eines großen Teils menschlichen Leids. Auf der Zeitachse der Evolutionsgeschichte ist symbolisches Lernen eine relativ junge Errungenschaft. Die Menschheit ist noch dabei zu lernen, wie sie die Macht dieser Fertigkeit nutzen kann, ohne unbeabsichtigt Leid zu erzeugen. Die Gespräche, die in der Psychotherapie stattfinden, und die Behandlungsmethoden, die dort angewandt werden, sind also auch Teil eines Lernprozesses. Dabei üben Therapeutinnen und Patientinnen, mit Bezugsrahmen und kontextuellen Hinweisreizen so umzugehen, dass sich Wohlergehen entwickeln kann.
1Mit Weltanschauung ist hier eine »World Hypothesis« im Sinne des von Stephen Pepper geprägten Begriffs gemeint. Für eine erste Orientierung hierzu lesen sie den Eintrag »World Hypothesis« in Wikipedia.
2Mit intrinsisch meinen wir nicht »unabhängig von unserer Wahrnehmung«, sondern »unabhängig von unserer symbolischen Interpretation«. Demnach ist, im Kontext dieser Definition, die Farbe einer Rose, die wir als rot sehen, intrinsisch, weil sie nicht von Sprache abhängt, sondern von unserer Wahrnehmung (einige Tiere oder Menschen mit beeinträchtigter Sehfähigkeit sehen sie anders).
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