»Ich … ich werde eine Möglichkeit finden. Falls das, was ich gerade tue, funktioniert … dann komme ich zurück und erzähle es dir. Vielleicht kann ich sehen, ob ich dir helfen kann, dasselbe zu tun. Ich verspreche, dass ich dir dann alles erklären werde. Und ich werde Yvoir zu den Chemikalien befragen. Du musst mich nicht bezahlen. Reicht das, damit du mir verzeihst, dass ich weggehe? Nur ein kleines bisschen?«
Er musste sich aus ihren Händen befreien, aus diesem Raum befreien, dessen sanfter Rauch ihn verlockte, seine Schutzschilde herunterzunehmen, sich zu entspannen, ins Vergessen zu gleiten. »Sicher. Ein bisschen. Halt es nur geheim. Du hast deine Geheimnisse, und ich habe meine.«
Sie wirkte, als wollte sie mehr sagen, und wollte ihn nicht loslassen. Weil sein Herz zu heftig gegen seine Rippen pochte, verlegte der Tote Rick sich darauf, die Gestalt zu wechseln. Cyma schrie auf und wich vor der Verwandlung seiner Haut und Knochen unter ihren Händen zurück. Als er wieder ein Hund war, floh er in die Schatten, wo er verloren herumstolperte, bis ein Hauch saubererer Luft von den Gardinen ihn zu seiner Rettung führte.
Erinnerung: 13. August 1878
Sie trat völlig schweigend in den Raum, gut von Zaubern getarnt. Der Mann im Bett, ein gewisser Frederic William Henry Myers, rührte sich nicht. Es war ein schlimmer Abend gewesen, einer von mehreren hintereinander, und er hatte sich mit Brandy zu Schlaf verholfen.
Sie hatte erwartet, dass eine solche Nacht kommen würde. Die Träume von Sterblichen waren einfacher zu beeinflussen, wenn ihre Herzen besorgt waren. Ein friedlicher Mann bot ihr wenige Chancen, mit dieser Kunst zu arbeiten. Zum Glück lag das, was für Myers Frieden am nächsten kam, auf dem Grund einer Flasche, und das wiederum bot einige Gelegenheiten.
Cyma zog die Gardine zurück und ließ das Licht des Vollmondes auf das Gesicht ihres Ziels fallen. Er regte sich etwas, und sie wartete und erlaubte ihm, sich zu beruhigen. Erst als er ruhig war, bewegte sie sich wieder über den mit Teppich belegten Boden an die Seite seines Betts, wo sie federleicht seine Schläfe berührte.
Seit Wochen hatte sie seine Träume angesehen und aus ihnen das Gesicht und die Stimme geholt, die sie brauchte. Für ihre Zwecke waren sie wertvoller als Fotografien. Cymas Interesse galt nicht, wie die Frau tatsächlich ausgesehen hatte, sondern eher, wie Myers sie gesehen hatte. Sie hatte mehr Informationen gesammelt, als vielleicht streng genommen notwendig war. Sein Verstand würde jegliche Lücken oder Fehler, die sie machte, übertünchen, solange die nicht zu eklatant waren. Aber es war Ewigkeiten her, seit sie diese Art von Freiheit gehabt hatte, unter Sterblichen zu wandeln, von deren Brot geschützt, und sie konnte nicht widerstehen, das so lange wie möglich hinzuziehen.
Was sie zu dieser Nacht brachte. Cyma schloss die Augen und hob erst einen Fuß, dann den anderen vom Boden, bis sie über Myers in seinem Bett schwebte.
Sie war darin nicht die Beste. Aber sie war gut genug, und sie schuldete Nadrett etwas.
Unter ihr träumte Myers von Annie Marshall. Der Ehefrau seines Cousins, die sich vor zwei Jahren ertränkt hatte. Nicht einmal annähernd genug Zeit, dass die Trauer verblichen wäre. In seinen Träumen konnte Myers tun, was er im Leben nie getan hatte: seine Liebe zu Annie gestehen, ihre Lippen küssen, das Fleisch berühren, das er sich immer nur ausgemalt hatte. Der schwierige Teil war es nicht, ihn von Annie träumen zu lassen. Schwierig war es, ihn von irgendetwas anderem als ihrer unerfüllten Liebe träumen zu lassen.
Aber Cyma war überaus entschlossen. Furcht hatte diese Wirkung, sogar auf eine Fee. Nadrett hatte sie geschickt, um das hier zu tun. Nadrett war ihr Gläubiger. Warum Nadrett einen Spiritisten als Marionette wollte, wusste Cyma nicht, und sie fragte nicht. Alles, was zählte, war es, den Angriffspunkt in Myers zu schaffen, den Glauben, dass seine tote Inamorata eine Botschaft hatte und wollte, dass er sie hörte. Medien hatten es nicht geschafft, Annie für ihn zu kontaktieren, und zwar nicht, weil sie es nicht versucht hatten. Doch die Frau konnte im Traum zu ihm kommen.
Also verlieh sie sich selbst das Gesicht, die Stimme, die Art von Annie Marshall und sagte Myers, was der Mann laut Nadrett hören sollte. Dass es Leute gäbe, die ihm helfen könnten. Dass er sie aufsuchen müsse und sie ihm die Beweise geben würden, die er so brennend ersehnte, Beweise, dass der Geist nach dem Tod weiter bestehen konnte. Dass ihr Selbstmord weder bedeutete, dass sie für immer von ihm fort wäre, noch dass sie in irgendeine quälende Hölle verdammt worden wäre. Er würde all die Versicherungen bekommen, die er sich wünschen konnte, solange er die Fremden fände und mit ihnen teilen würde, was er wusste.
Tränen strömten über Myers’ schlafendes Gesicht, als das Mondlicht Cyma in das verteidigungslose Reich seiner Gedanken trug.
Er war nicht der erste Mann, auf den Nadrett sie angesetzt hatte. Aber bei diesem hier war sie sicher, dass sie Erfolg haben würde. Er war das perfekte Ziel: ein gelehrter Spiritist, der mit ähnlich gelehrten Freunden verkehrte, aber im Herzen verwundet, wie die anderen es nicht waren. Sobald Nadrett ihn hätte, wäre der Herr sicher zufrieden, und Cymas Schulden wären beglichen.
Vielleicht wäre sie sogar schon nächsten Monat frei.
Sie glaubte es, wie Myers an den Geist von Annie Marshall glaubte, und aus demselben Grund. Weil die Hoffnung sie aufrecht hielt, egal wie unmöglich sie sein mochte.
ADELAIDE ROAD, PRIMROSE HILL
6. April 1884
Das Dämpfen der Gaslampen hatte dem Raum eine kühle, grabähnliche Atmosphäre verliehen. Draußen war die Nacht in Nebel gekleidet, und der Mond spielte hinter den Wolken Verstecken. Wind rüttelte von Zeit zu Zeit an den Fensterläden und schuf ein leises Seufzen im Kamin. Kurzum, es war so, wie ein Dichter sich eine Nacht für eine Séance ausgemalt hätte.
Cyma hoffte, dass es das Medium zu Höchstleistungen inspirieren würde. Mrs. Iris Wexford war typisch für ihre Sorte: die Ehefrau eines Vikars in Aylesbury, jenseits ihrer fruchtbaren Jahre und von ihrem respektablen Leben wahnsinnig gelangweilt. Sie war fest davon überzeugt, dass Spiritismus das Heilmittel für alle Makel des Christentums war, dass er die Bibel rechtfertigte, statt sie zu widerlegen, wie manche behaupteten.
Wie die meisten von ihrer Sorte war sie wahrscheinlich ein Scharlatan. Aber Frederic Myers hegte große Hoffnungen für sie, und deshalb war Cyma hier.
Sie spielte mit dem Gedanken, dass es Schicksal war, ihn wiederzutreffen. Sobald Myers durch seine Träume gründlich gefangen genommen worden war, hatte Nadrett allen Kontakt mit dem Mann übernommen und Cyma ausgeschlossen. Ohne Brot, um sie zu schützen, hatte sie keine Möglichkeit gehabt, ihn zu besuchen, und so war Myers mit der Zeit aus ihren Gedanken verschwunden: ein weiterer Sterblicher, der in Feenangelegenheiten verwickelt war und wahrscheinlich nicht heil herauskommen würde.
Oder, was das betraf, überhaupt herauskommen. Dass Frederic Myers immer noch ein freier Mann und nicht der verrückte Sklave von irgendjemandem auf dem Goblinmarkt – oder tot – war, verriet ihr, dass Nadrett ihn noch nicht losgelassen hatte, noch nicht gänzlich. In diesem Fall wiederum wäre es viel sicherer für Cyma gewesen, Abstand zu halten. Sie war endlich beinahe von Nadrett befreit und hatte kein Verlangen, wieder in die Falle zu geraten. Aber Myers hatte sie mit seiner melancholischen Trauer und unsterblichen Hoffnung, seine verlorene Liebe wiederzusehen, fasziniert, und sie konnte die Chance nicht verstreichen lassen, herauszufinden, welchem Pfad er jetzt folgte.
Ganz demselben wie damals, als sie ihn kennengelernt hatte, wie es schien. Er prüfte Medien und hoffte, eines zu finden, das an seiner statt mit der verstorbenen Annie kommunizieren konnte. Jetzt saß er mit seinen Freunden Henry und Eleanor Sidgwick und verschiedenen anderen, die Cyma nicht kannte, um den Tisch. Anders als jene ersten beiden waren die anderen keine Mitglieder der neuen Gesellschaft für Psychische Forschung. Sie hatte sich ihnen als eine gewisse »Miss Harris« angeschlossen und saß jetzt da, wobei ihre Aufmerksamkeit mehr auf Myers als auf Mrs. Wexford gerichtet war. Er hatte sich nicht verändert: immer noch dieselbe zitternde Begierde in seinen aufgerissenen Augen, seinen leicht geöffneten Lippen, als Mrs. Wexfords Kopf nach hinten gegen ihre Stuhllehne sank.
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