Ihr Instinkt besiegte die Vorsicht. Eliza zog den Stuhl wieder herüber, schob die vorderen Schachteln aus dem Weg und fasste nach einer hinteren. Sie stellte sich als unangemessen schwer heraus, und als Eliza den Deckel hob, breitete sich ein Lächeln in ihrem Gesicht aus. »Hab dich.«
Was auch immer für ein Hut einst in der Schachtel gewesen war, er war lange verschwunden. An seiner Stelle waren Bücher, Magazine und Flugblätter. Eliza ging sie durch, während sie kaum atmete. Ein Paar Gruselromane, die Anzeichen wiederholten Lesens aufwiesen. Ein Buch mit Gedichten von jemandem namens Oscar Wilde. Eine Werbung für einen Magnetiseur. Verschiedene Ausgaben einiger spiritistischer Magazine und einige Flugblätter von Frederic Myers, dessen Namen Eliza erkannte. Er und einige andere Leute hatten sehr viel Forschung zu Medien und Geistern unternommen und sogar ihre eigene Gesellschaft für Psychische Forschung gegründet.
War Miss Kittering daran interessiert, den Geist eines Verstorbenen zu kontaktieren, oder betrachtete sie sich selbst als Medium? Eliza vermutete, dass das keinen Unterschied machte. So oder so, diese Sammlung enthielt einen Haufen Dinge, die Mrs. Kittering nicht im Geringsten billigen würde, nicht mit ihrem Beharren auf perfekter Respektabilität. Nichts über Feen, nicht dass Eliza es ohne eine genauere Suche sehen konnte – aber reichlich Zeug, das von verrufenen Dingen sprach.
Beim Knarzen der Treppe schlug ihr das Herz bis zum Hals. Eliza stopfte hastig alles zurück in die Hutschachtel, schob diese an ihren Platz, schlug die Schranktüren zu – die sie im letzten Augenblick fing, damit sie nicht zuknallten – und stellte den Stuhl mehr oder weniger dorthin zurück, wo er hingehörte, ehe sie sich zum offenen Kamin stürzte, wo sie hart an der Arbeit sein sollte.
Als die Tür aufging, wusste sie, dass nur Eitelkeit sie vor einer Entdeckung bewahrt hatte. Nicht ihre, sondern die des Hausdieners Ned Sayers, der jedes Mal ohne Ausnahme stehen blieb, um sich in dem Spiegel anzusehen, der oben an der Familientreppe aufgehängt war. Mrs. Kittering feuerte Hausdiener nicht so oft wie Hausmädchen, weil es nötig war, ein Paar zu behalten, das an Größe und Aussehen einigermaßen zusammenpasste. Soweit Eliza es beurteilen konnte, war das Gesicht von Ned Sayers das Einzige, was ihn in seiner Stellung hielt.
Sie schenkte ihm ein Lächeln und hoffte, dass er nicht bemerken würde, dass sie gerade erst damit angefangen hatte, schwarzes Blei in die Eisenstäbe des Kamingitters zu reiben, wenn sie eigentlich beinahe fertig sein sollte. Sayers lächelte zurück und hielt ein Paar feiner knöchelhoher Stiefel hoch. »Ich bringe die nur zurück«, sagte er.
»Ich hoffe, sie waren nicht zu schwierig sauberzumachen«, sagte Eliza. Der Klatsch von Bediensteten war ihre andere große Hoffnung, irgendetwas zu erfahren. Sie wussten weit mehr über ihre Herren und Herrinnen, als jene Arbeitgeber gerne in Betracht gezogen hätten. Aber Mrs. Fowler, die ihre Mahlzeiten überwachte, hatte wenig Toleranz für müßiges Geplauder, und wenn Eliza abends zu Bett ging, war sie viel zu müde, um Ann Wick zu befragen, das obere Hausmädchen, deren Zimmer sie teilte. In der Hoffnung, etwas aus Sayers herauszubekommen, fügte sie an: »Nach dem, was ich gehört habe, kann Miss Kittering schrecklich mit ihrem Eigentum umgehen. Ein echter Wildfang ist die.«
Der Hausdiener zuckte mit den Schultern und ging an ihr vorbei. »Ich schätze schon.« Eliza beobachtete ihn genau, als er die Schranktüren aufmachte und die Stiefel beiläufig auf das untere Regal warf. Sie betete, dass er nichts bemerken würde, was nicht am richtigen Platz war. Dann sah sie, dass ihr Lumpen immer noch auf dem Stuhl lag, und sah ruckartig zurück zum Gitter, während sie stumm fluchte. Aber Sayers sagte nur: »Wenn du möchtest, könnte ich deine Schuhe für dich putzen. Du hast so hübsche Knöchel.«
Eine Hand legte sich auf Elizas Wade, die frei lag, weil sie kniete, um ihre Arbeit zu tun, und sie zuckte überrascht zusammen. Ihr Ärmel fing sich am Knauf der Aschepfanne. Für einen Augenblick kam sie aus dem Gleichgewicht und stürzte beinahe. Sayers fing sie auf, und Eliza ließ in ihrer Eile, sich von ihm zu befreien, die Bürste fallen. »Mr. Sayers …«
»Bitte, nenn mich Ned.« Er lächelte sie an.
Eliza gefiel dieses Lächeln überhaupt nicht. Hausmädchen konnten hinausgeworfen werden, wenn sie etwas mit Männern anfingen. Vielleicht war Mrs. Kittering nicht allein an all den Abgängen schuld. Doch wenn sie ihn wütend auf sich machte, konnte das ebenfalls Schwierigkeiten bereiten. »Ich bin mit meiner Arbeit schon hinterher«, sagte sie, womit sie der Frage auswich, welchen Namen sie benutzen sollte. Als sie die Bürste aufhob, runzelte sie die Stirn. Diese war von der Plane gerollt, die sie abgelegt hatte, und hatte Schlieren aus öligem schwarzem Blei auf dem Boden hinterlassen. Dann schluckte sie einen Fluch auf Irisch hinunter, als sie sah, dass sie auch etwas davon auf die Hände bekommen hatte. Selbst wenn Sayers hinausgehen würde, sie würde nicht zu jenen versteckten Flugblättern zurückkehren können. Sie würde überall schmutzige Fingerabdrücke hinterlassen.
»Du wirst immer hinterher sein. Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, und Mrs. Kittering wird unerfreut über alles sein, was du nicht fertiggemacht hast. Was ist etwas mehr davon im Tausch gegen ein bisschen Spaß?«
Das traf sie bis ins Mark. Sayers hatte mit der Arbeit recht. Dieses Haus war so groß und das Personal ständig überarbeitet, sodass Eliza feststellte, dass sie in jeder wachen Minute beschäftigt war. Ein abschweifender Gedanke ließ sie sich fragen, wie tief Miss Kittering schlief, und das schockierte sie so sehr, dass sie wieder vernünftig wurde: Wenn sie in Betracht zog, nachts ins Zimmer der jungen Frau zu schleichen, dann hatte sie jedes bisschen Vernunft verloren.
Alles davon machte Elizas Tonfall härter, als vielleicht klug war, als sie sagte: »Ich brauche diese Stelle, Mr. Sayers. Mrs. Kittering mag zwar unerfreut sein, egal was ich tue, aber das ist kein Grund für mich, absichtlich dazu beizutragen.«
Sayers runzelte die Stirn. Sie konnte sich kaum dazu bringen, sich darum zu scheren. Sicherlich würde jeder Ärger, den er machte, Zeit brauchen, um ihr wirklich Probleme zu bereiten, und sie hatte nicht vor, lange genug hierzubleiben, um ihm eine Gelegenheit zu geben. Was wichtig war, waren Miss Kittering und ihre Geheimnisse.
»Ich hatte dich für ein freundlicheres Mädchen gehalten«, sagte er.
Eliza lachte ihm beinahe ins Gesicht. Fergus Boyle hatte einmal ziemlich dasselbe zu ihr gesagt, und sie wusste genau, welche Art »Freundlichkeit« sie aus ihr zu locken versuchten. Aber nein. Wenn ich lache, wird er wirklich wütend, und das sollte ich vermeiden, wenn ich kann .
»Es tut mir leid, Mr. Sa… Ned. Es ist nur so, dass das Leben in letzter Zeit furchtbar hart für mich war und diese Stellung das größte Glück ist, das ich seit Ewigkeiten hatte. Ich traue mich nicht, sie zu riskieren. Bitte verzeih mir.«
Sein Vorname blieb ihr fast im Hals stecken, ebenso die Entschuldigung, aber das hatte die gewünschte Wirkung. Der harte Gesichtsausdruck des Hausdieners wurde zu einer sanfteren Miene. Und er bot nicht einmal an, ihr das Leben leichter zu machen – noch nicht zumindest. Eliza hegte wenig Zweifel, dass solche falschen Versprechungen kommen würden. »Wie könnte ich einem so hübschen Gesicht nicht verzeihen?«, fragte er – und überspannte die Wahrheit fast bis zum Zerreißen, denn Eliza wusste selbst, dass sie keine Schönheit war. Ihr Leben war dafür viel zu hart gewesen.
Als die Tür ein zweites Mal aufging, war sie nicht sicher, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein sollte, denn sie war sicher, dass es Mrs. Fowler sein würde, die käme, um Eliza zu ohrfeigen, weil sie so langsam war. Aber die Gestalt in der Tür war einen halben Fuß kleiner, halb so breit wie die Haushälterin und zehnmal besser gekleidet: Miss Louisa Kittering persönlich.
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