»Ich kann es mir einfach nicht vorstellen«, sagt Berta dann auch am Abend am Stammtisch im Kehr wieder , »sie war gar nicht der Typ dazu.«
»Was für ein Typ muss man denn sein, um nachts von der Seebrücke in die kalte Ostsee zu springen?«, wundert sich ihre Nichte.
»Na ja, einsam, depressiv, zumindest unglücklich.«
»Und woher weißt du, dass sie das nicht war? Kanntest du sie so gut?«
»Nicht wirklich. Aber ich hab schon manchmal mit ihr geredet, wenn wir uns im Ort getroffen haben. Ich hatte nie den Eindruck, dass sie Probleme hätte. Sie wirkte immer zufrieden mit sich und der Welt. Sie war so stolz auf ihre Tochter und ihren Schwiegersohn und hat immer von dem kleinen Enkel erzählt. – Ich versteh es einfach nicht. Was ist da passiert?«
»Vielleicht hat sie die heile Welt nur vorgespielt«, mischt sich Gesa Huber ein und wirft über ihr Bierglas hinweg einen spöttischen Blick auf die alte Wirtin. »Du kannst auch keinem hinter die Stirn gucken und glaubst es gerne, wenn dir einer erzählt, alles ist super und das reinste Paradies.« Die hagere 65-Jährige hat ihr pechschwarz gefärbtes Haar im Stil der 60er-Jahre hochtoupiert und mit viel Haarspray fixiert. Der große gierige Mund ist dick mit dunkelrotem Lippenstift bemalt, die dunklen Augen wirken durch zu viel schwarzes Make-up klein und stechend. Ihre Kleidung soll sexy sein, wirkt aber nur billig. Der tiefe Ausschnitt ihres knallengen roten Pullis zeigt ein hervorstehendes Schlüsselbein und den faltigen Ansatz eines kleinen, hängenden Busens. Sie stellt einen peinlichen Kontrast dar zwischen Verführerisch-sein-wollen und es nicht zu sein. Das ebenmäßige Gesicht ist entstellt durch den Ausdruck ständiger Unzufriedenheit, der Mund immer zum Nörgeln verzogen. Sie ist vom Leben tief enttäuscht, fühlt sich ungerecht behandelt und hasst die Menschen, denen es besser geht als ihr. Und das sind ihrer Meinung nach alle, die nicht dauernd klagen, die gern lachen und freundlich miteinander umgehen.
Berta schweigt nachdenklich. Sie bemüht sich, ihre Antipathie nicht zu zeigen. Schon, weil Sophie und Anne die Frau nicht ausstehen können. Einer muss doch freundlich zu ihr sein, man kann einen Menschen, der niemanden weiter hat und so unglücklich ist, nicht auch noch aus der Stammkneipe vergraulen. Aber leicht macht sie es einem wirklich nicht, sie zu mögen.
Gesa Huber war vor vierzig Jahren eine auffallend schöne Frau. Groß und schlank, mit langen, glänzend schwarzen Haaren und einem hübschen Gesicht. Damals hat sie als Kellnerin im Erholungsheim Fortschritt gearbeitet. Die Männer waren verrückt nach ihr und sie hat das schamlos ausgenutzt. Und dennoch hat sie alles falsch gemacht. Für eine Karriere genügte die Sympathie der Vorgesetzten nicht, wie sie gehofft hatte. Sie hätte ihre Chancen nutzen, sich weiterbilden, Prüfungen ablegen müssen. Dazu war sie zu dumm und zu faul. Ihr Wunsch, in einem Büro zu sitzen und Anweisungen zu geben, hat sich nie erfüllt. Sie blieb eine einfache Serviererin und nach der Wende musste sie froh sein, in diesem Beruf noch eine Stelle zu bekommen. Fast jeden Winter war sie arbeitslos und bekommt deshalb nur eine niedrige Rente. Auch privat lief es nicht so, wie sie es sich erträumt hatte. Die von ihr bevorzugten Männer – in höheren Positionen, mit Geld und Einfluss – hatten den Nachteil, dass sie meistens verheiratet waren. Es gelang ihr zwar, in einigen Ehen Unruhe zu stiften, eine sogar zu zerstören, aber letztendlich ließ sich niemand an sie binden. Sie war zwar hübsch, aber eben doch ziemlich dumm und leicht durchschaubar. So war sie nie verheiratet, Berta kann sich auch nicht erinnern, dass sie mal länger mit einem Mann zusammengelebt hätte. Eines kann man ihr jedoch nicht nachsagen, nämlich, dass sie schwatzhaft wäre. Was sie sagt, ist immer genau überlegt. Meist gelingt es ihr, sich selbst positiv darzustellen, vor allem, indem sie schlecht über andere spricht. Wer der Vater ihrer Tochter Evelin ist, ist ihr am besten gehütetes Geheimnis.
Nicht einmal Berta weiß das genau. Und das will etwas heißen! Allerdings hat sie einen Verdacht, über den sie aber noch nie gesprochen hat. Das wird sich schon noch mal ergeben, bisher hat sie noch alles erfahren, was sie wirklich wissen wollte. Vielleicht ist es aber auch nicht so wichtig und für Evelin sogar besser, wenn sie es nicht weiß. Berta blickt zu der jungen Kellnerin hinüber, die gerade an einem Tisch die Bestellung der Gäste aufnimmt. Sie hat kaum Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, nur die schlanke Figur hat sie geerbt und die vollen Lippen. Aber ihre Nase ist zu groß für das schmale Gesicht, sie hat ein paar Sommersprossen und rote Haare, die allerdings blond gefärbt sind. Und ihre Augen sind blassblau, im Gegensatz zu den dunklen Augen ihrer Mutter.
Die beiden haben kein gutes Verhältnis, sie reden kaum miteinander. Gesa war noch nie eine gute Mutter, Zärtlichkeit und Liebkosungen hat ihre Tochter kaum bekommen, selten ein freundliches Wort. Ihre Erziehung bestand darin, dass sie das Kind angeschnauzt oder verspottet hat. Noch heute scheint Evelin die Frau mehr zu fürchten, als zu lieben.
»… oder glaubst du, sie ist gar nicht freiwillig in die Ostsee gesprungen? Wurde sie vielleicht ermordet?« Gesa reißt Berta aus ihren Gedanken und spricht genau das aus, was schon die ganze Zeit als vager Verdacht über dem Stammtisch schwebte.
Sophie stöhnt: »Also wirklich, nicht schon wieder! Bansin ist doch nicht Klein-Chicago. Mir reichen schon diese seltsamen Einbrüche. Bitte, Tante Berta, beschäftige dich damit und fang nicht wieder an, einen Mörder zu suchen!«
»Was kann ich dafür? Ich erfinde die Mörder doch nicht. Und ich locke sie auch nicht her. Im Gegenteil.«
»Was denn für Einbrüche?«, unterbricht Gesa. »Ist bei euch eingebrochen worden?«
»Nein, bei uns nicht. Bei anderen im Ort.«
»Ach so.« Das interessiert sie nicht sonderlich. »Wahrscheinlich waren es die Polen.«
»Nein, wahrscheinlich waren es keine Polen«, widerspricht Berta etwas scharf. »Vielleicht war es sogar jemand, den wir kennen«, denkt sie laut über einen Verdacht nach, den sie bisher noch mit niemandem geteilt hat. »Bisher waren alle, die auf diese Art bestohlen wurden, Gäste von uns.«
»Was soll das denn heißen?« Sophie ist entsetzt.
»Ich weiß auch nicht. Wahrscheinlich ist es ein Zufall. Nun reg dich nicht auf! Andererseits – irgendwie läutet da was bei mir. Das gab es schon mal, aber das ist lange her.«
Sie sieht Gesa an, der jetzt die blanke Panik im Gesicht steht. »Du glaubst doch nicht …«, stammelt sie.
»Ich weiß nicht, ich muss noch mal darüber nachdenken, wie das war. Es ist ja immerhin … Warte mal! … jedenfalls über dreißig Jahre her.«
Sophie beobachtet die Älteren gespannt. Es freut sie, dass Gesa Huber offensichtlich in Schwierigkeiten steckt, und sie wüsste gern, in welchen. Aber leider reden die beiden nicht weiter, sehen sich nur an, die eine nachdenklich, die andere ängstlich.
Sie denken an dasselbe Ereignis im Sommer 1988.
Dass Gesa Huber blass vor Angst ist, kann man unter dem ganzen Make-up nicht erkennen, auch nicht, dass ihr das Herz bis zum Hals schlägt. Es kann doch nicht sein, dass die Vergangenheit sie wieder einholt, gerade jetzt, wo sie meint, ihren Ruf einigermaßen aufpoliert zu haben. ›Berta Kelling hat anscheinend ein Gedächtnis wie ein Elefant‹, überlegt Gesa. ›Ob sie wohl mit ihrer eingebildeten Nichte Sophie und der anderen blöden Gans, diesem Trampel Anne Wiesner, darüber redet? Eigentlich hat sie sich mir gegenüber bisher immer fair verhalten. Aber anscheinend verdächtigt sie mich, hinter diesen Einbrüchen zu stecken. Dabei habe ich diesmal wirklich nichts damit zu tun.‹ – »Zahlen«, herrscht sie Sophie an und holt mit zitternden Händen ihr großes rotes Portemonnaie aus der billigen Handtasche. ›Ganz ruhig!‹, redet sie sich selbst in Gedanken zu. ›Erst mal hier raus. Zu Hause muss ich in Ruhe nachdenken. Wie sie mich anglotzen, diese blöden Schnepfen.‹ Noch mehr als Annes neugieriger, beunruhigt sie Bertas mitleidiger Blick.
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