Die einzige Freude, die sie damals ihrer Mutter machen konnte, war frischer Fisch, den sie mit nach Hause brachte. Für Urlauber war es schwer, den oder gar einen Räucheraal zu bekommen, aber von den Einheimischen hatte jeder »seinen« Fischer. Für Berta war es die Familie Plötz. Sie hatten in der langen Baracke zwei Buden nebeneinander. Berta erinnert sich noch gut an das lebhafte Treiben hier zwischen den Dünen und den Hütten. Da lagen die großen Boote, es waren Baumwollnetze und Gummijacken zum Trocknen gespannt, Fischerfrauen besteckten die Aalangeln oder pulten Hering aus den Netzen, hier und da qualmte ein Räucherofen, dazwischen spielten die zahlreichen Kinder.
Zeitweise hatte es über 60 aktive Fischer in Bansin gegeben. Inzwischen ist es ruhig geworden. Pauls Vater ist tot, sein Bruder hat, wie die meisten Bansiner Fischer, längst aufgegeben. Paul hat aus den beiden Buden eine gemacht, die dünne Bretterwand dazwischen herausgerissen, weshalb der Ofen jetzt auch nicht mehr an der Wand, sondern in der Mitte der Hütte steht. Er sitzt daneben in seinem alten Sessel, versucht sich eine Zigarette anzustecken und ist wütend, weil das Feuerzeug nicht funktioniert und überhaupt … »Frag gar nicht erst!«, fährt er Berta an, bevor die etwas sagen kann. »Ich hab keinen Dorsch, weil ich keinen Dorsch haben darf, verdammich. Und weil der Fischmeister hier dauernd umherschleicht.«
»Guten Morgen! Ich will gar keinen Dorsch. Hab ich was von Dorsch gesagt?«
»Hast du. Du willst Fischbuletten machen, hast du gesagt. Und wovon? Von Hering vielleicht?«
»Das hab ich vor drei Wochen gesagt, da war noch keine Rede davon, dass ihr keinen Dorsch mehr fischen dürft.«
»Kann ich was dafür, dass du deine Meinung alle Augenblicke änderst? Also keine Fischbuletten. Was denn?« Immer noch wütend wirft er das leere Feuerzeug in eine Ecke auf einen Berg alter Netze, nimmt die kalte Zigarette aus dem Mund und lehnt sich seufzend zurück. »Macht alles keinen Spaß mehr, Berta. Wir sollten erst mal einen schönen steifen Grog trinken.«
Die Frau winkt ab und setzt sich auf einen alten Küchenstuhl. »Ist mir noch zu früh.«
»Was meinst du? Noch zu früh am Tag oder noch nicht kalt genug?«
»Beides. Du, sag mal, hast du was von diesen mysteriösen Einbrüchen im Ort gehört? Oder bei euch im Dorf?«
»Einbrüche bei uns in Sallenthin? Nee, das wüsste ich. Und in Bansin? Ja, du, da war was.« Er blickt nachdenklich zu seinem Kollegen Arno Potenberg, der gerade mit einer Kiste voller Fisch hereinkommt.
Arno ist hager und sehr groß, er muss den Kopf einziehen, wenn er durch die Tür der niedrigen Hütte tritt. Alles an ihm ist groß: seine Hände, seine Füße und seine Nase. Trotzdem wirkt er nicht plump, sondern freundlich und intelligent. Sein volles blondes Haar ist gepflegt und gut geschnitten, das schmale Gesicht wird von hellen, klugen Augen dominiert. Er stellt die Kiste auf einer Bank ab. »Morgen, Berta! Braucht ihr Fisch? Wir haben zwei schöne Schnäpel, die kannst du haben. Ein paar Flundern und die Heringe will ich räuchern. Oder wollt ihr was zum Braten?«
»Nein, lass mal! Die kannst du am Stand verkaufen, sind ja noch genug Gäste da. Die Schnäpel nehm ich gern.« Berta lächelt den Mann wohlwollend an. Er hat seit Jahren ein mehr oder weniger festes Verhältnis mit ihrer Nichte Sophie. Mit Höhen und Tiefen und einigen Unterbrechungen – Sophie hat Bindungsangst und manchmal stört es sie, dass Arno elf Jahre jünger ist. Aber Berta findet, die beiden passen perfekt zusammen.
Den alten Fischer interessiert das Gespräch der beiden nicht sonderlich, schon seit einiger Zeit überlässt er alles Geschäftliche seinem jüngeren Kollegen. Er denkt stattdessen über Bertas Frage nach. »Arno, wer hat das neulich erzählt, dass bei ihm eingebrochen wurde und die haben das erst gar nicht gemerkt? Weißt du das noch? Das war doch irgendwie komisch.«
»Ja.« Arno streicht mit dem Finger an seiner Nase entlang, eine Geste, die ihm beim Erinnern hilft. »Ich weiß nicht, wie der heißt, ein Bansiner war das jedenfalls, der so was erzählt hat. Der ist mit seiner Frau auch oft bei euch im Kehr wieder zum Essen. Die hatten erst den Nachbarn in Verdacht, aber dann hat sich das Ehepaar gegenseitig verdächtigt, weil nur Bargeld fehlte und … ach, ich weiß das nicht mehr, so eine Familiengeschichte eben. Warum fragt ihr danach?«
Berta will es gerade erklären, als Arno durch die Tür hinunter zum Strand blickt. »Was ist denn da los?« Er geht hinaus.
Berta und Paul folgen ihm durch die Dünen zum Ufer. Eine kleine Gruppe Strandspaziergänger steht dort um etwas herum, eine Frau fängt ihren Hund ein und legt ihn an die Leine, ein junger Mann nimmt ein kleines Kind hoch und trägt es schnell weg. Eine ältere Frau verbirgt ihr Gesicht an der Schulter ihres Mannes, eine andere schlägt entsetzt eine Hand vor den Mund und auch die anderen Umstehenden wirken verstört. Jetzt hört man auch von der Strandpromenade her das Signal eines Rettungswagens.
Berta und die beiden Fischer bleiben einige Meter vor der Gruppe stehen, als zwei Polizisten von der anderen Seite her über den Strand gelaufen kommen. Einer von ihnen ist Fred Müller, der Ortspolizist, den Berta schon seit seiner Kindheit kennt. Er nickt ihr einen Gruß zu und deutet kurz mit dem Kopf in Richtung der Fischerhütten.
Berta versteht. »Kommt!«, fordert sie die Männer auf. »Wir gehen in die Bude. Wir erfahren noch früh genug, was los ist.«
Eine halbe Stunde später duckt sich der große, kräftige Mann in Polizeiuniform unter der Tür durch. Er hält die Mütze in der Hand, streicht sich über das kurze blonde Haar und sieht Berta bedrückt an. »Es handelt sich um Frau Hagemeister. Wahrscheinlich Selbstmord. Sie muss gestern Abend von der Brücke gesprungen sein.«
»Ach nein, doch nicht sie.« Die alte Frau hat Tränen in den Augen, auch Paul Plötz schluckt.
»Wir wissen noch nichts weiter. Aber es sieht nicht nach Fremdverschulden aus. Ich muss dann aber auch wieder …«
»Ja, natürlich. Danke, Fred.«
Arno hat schweigend Grogwasser aufgesetzt, was er selten ohne Aufforderung tut. Die beiden Alten sehen aus, als bräuchten sie ihr Allheilmittel. Er selbst kannte die Frau nicht, zumindest nicht dem Namen nach. »Eine Bansinerin?«, fragt er leise.
»Ja.« Berta nickt, schnieft ein bisschen und schnäuzt sich dann ausgiebig in ihr Taschentuch.
Paul Plötz wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich kenn sie schon seit der Schule. Die war ein bisschen älter als ich«, erklärt er. »War mal ein hübsches Mädchen. Bisschen … na ja«, er verkneift sich, was er eigentlich sagen wollte, »bisschen naiv und gutgläubig, aber immer lieb und nett. So eine Frau, die man in den Arm nehmen und beschützen möchte.«
»Ja, genau.« Berta nickt nachdrücklich. »Die Hellste war sie sicher nicht. Aber sie war so freundlich und hilfsbereit, hat nie schlecht von jemandem gesprochen.«
»Und trotzdem hatte sie am Ende niemanden, der ihr helfen konnte«, stellt Arno fest, während er großzügig Rum in zwei dickwandigen Gläsern verteilt.
»Hat sie nicht eine Tochter?«, überlegt Plötz. »Wie heißt die noch? Die ist doch verheiratet mit dem …«
»Ja, genau, mit einem Koch. Der ist Kroate oder Slowake, glaube ich. Ist aber schon lange hier. Wie heißt er noch? David? Mario? Paul, ich werde alt. Mein Gedächtnis lässt mich langsam im Stich.«
»Wem sagst du das, Berta. Mit den Namen krieg ich auch Probleme. Aber ich weiß, wen du meinst. Haben die sich nicht gerade selbstständig gemacht?«
»Richtig, die haben die kleine Gaststätte in der Seestraße gepachtet. Danke, Arno.«
Während der junge Fischer hinausgeht, um endlich seinen Räucherofen zu bestücken, rühren die beiden Alten traurig in ihren Groggläsern. Sie denken daran, wie verzweifelt Frau Hagemeister gewesen sein muss.
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