»Was schmeiß ich in die Tonne? Guten Morgen erst mal. Habt ihr noch Kaffee?« Renate wartet nicht auf eine Antwort, sie geht in die Küche und kommt kurz darauf im weißen Kittel, den sie im Gehen zuknöpft, zurück.
Sophie hat inzwischen zwei Tassen Kaffee geholt, stellt sie ihren beiden Angestellten hin und holt für Renate eine Zuckerdose.
Berta lehnt sich entspannt zurück. So hat sie es gern. Eine gemütliche Runde am Stammtisch und Renate hat offensichtlich Neuigkeiten zu erzählen, so aufgeregt, wie sie in ihrer Tasse rührt.
»Stellt euch vor, bei Winklers und einer weiteren Familie ist eingebrochen worden«, verkündet die Köchin dann auch. »Und genau wie damals bei den … Dings – du weißt schon.« Sie sieht Berta an. Die nickt.
»Wieder keine Spuren, die wissen gar nicht, wann es passiert ist. Haben es erst bemerkt, als sie Geld aus ihrem Geheimversteck nehmen wollten und nichts mehr da war.«
»Sicher hatten sie ein ganz tolles Versteck«, vermutet Berta sarkastisch. »Im Schlafzimmer zwischen der Bettwäsche oder in einer Dose im Küchenschrank.«
»Ist ja auch egal.« Sophie ist entsetzt. »Die Frage ist doch, wie sind die Einbrecher in die Wohnungen gekommen, ohne dass einer was gemerkt hat?«
Evelin freut sich, dass die alte Frau jetzt abgelenkt ist und nicht mehr daran denkt, dass sie was essen sollte. »Das waren bestimmt Polen«, piepst sie. »Da steht heute auch wieder was in der Zeitung drüber.«
Berta wirft einen kurzen Blick auf die Ostsee-Zeitung, die zusammengefaltet auf dem Tisch liegt, und schüttelt den Kopf. »Ja, da steht, dass sie Fahrräder geklaut haben und Jacken aus den Boutiquen. Aber die brechen nicht in Wohnungen ein, ohne dass es sofort bemerkt wird.« Sie kraust die Stirn und blickt nachdenklich aus dem Fenster, während die anderen drei Frauen weitere Vermutungen austauschen.
Als Erste schiebt Renate ihre Kaffeetasse weg und steht stöhnend auf. »So, ich muss in die Küche. Ben hat heute frei, ich muss Kartoffeln schälen und Gemüse putzen.«
»Evelin kann dir helfen«, bestimmt Sophie. »Die Gaststätte ist so weit fertig, ich mach noch schnell die beiden Zimmer sauber.«
»Und ich gehe zum Strand und guck mal, was Paul und Arno so treiben. Soll ich Fisch mitbringen, wenn sie was haben?«
»Ja, klar.« Renate stellt die Kaffeetassen zusammen und nickt energisch, während sie mit dem Hinterteil die Pendeltür zur Küche aufstößt. »Egal, was er hat. Das Mittagsgeschäft ist noch gut und es sind eine Menge Leute im Ort. Ich kann auch schon was für den Winter einfrieren.«
Am Nachmittag glaubt Sophie ein Déjà-vu zu haben. Die Eltern mit den drei Kindern sind wieder die letzten Gäste, wieder beschäftigen sich die Erwachsenen mit ihren Smartphones, während die drei Kleinen durch den Raum toben. Diesmal reicht allerdings Bertas Erscheinen, dass sie Evelin winken, um zu zahlen und dann relativ schnell verschwinden.
Die alte Wirtin hat ihren erzieherischen Erfolg gar nicht bemerkt, sie unterhält sich lebhaft mit Sophies Freundin Anne, die mit ihr zusammen ins Haus gekommen ist. Auch wenn Bertas Nichte in Berlin aufgewachsen ist, hat sie doch alle Ferien bei ihrer Tante in Bansin verbracht und immer zusammen mit Anne.
Als Berta Kelling ihren alten Familienbesitz, die Pension Kehr wieder , 1990 zurückbekommen hatte, wusste sie zunächst wenig damit anzufangen. Sie war eine einfache, wenn auch sehr gute Köchin, hatte keinerlei Erfahrung in der Marktwirtschaft – Woher denn auch? –, scheute sich, einen hohen Kredit aufzunehmen und misstraute den zahlreichen dubiosen Beratern, die plötzlich auftauchten und auf sie einredeten. Die meisten empfahlen, ihnen das Haus zu verkaufen, bevor es ganz zusammenfallen würde; die Touristen würden sowieso nicht mehr an die Ostsee, sondern lieber in den Süden fahren. Aus reinem Trotz aber auch, weil sie sich ihren Vorfahren, besonders ihrer erst kürzlich verstorbenen Mutter, gegenüber verpflichtet fühlte, behielt sie das Haus. Sie vermietete die Zimmer an anspruchslosere Gäste: ehemalige DDR-Bürger oder Arbeiter. Die Gaststätte lief weiterhin gut, besonders die Einheimischen wussten Berta Kellings Küche zu schätzen und die Preise spielten natürlich auch eine Rolle.
Zwölf Jahre später aber hatte sie eine Entscheidung treffen müssen. Sie fühlte sich mit ihren 62 Jahren zwar körperlich und auch geistig fit, war aber mit dem maroden Haus und der Gesamtsituation überfordert. Schweren Herzens entschloss sie sich, nun doch zu verkaufen. Dass Sophie dann das Haus übernahm, erschien im Nachhinein völlig logisch, es war die perfekte Lösung. Aber damals hatte niemand diese Möglichkeit ernsthaft erwogen. Sophie hatte zwar eine passende Ausbildung und sogar Tourismus studiert, aber sie plante eine Karriere in Berlin. Für Berta war es immer ein Traum gewesen, ihre Nichte irgendwann an die Ostsee zu holen. Die Bansiner Pensionswirtin hatte weder Mann noch Kind und liebte Sophie wie eine Tochter, aber gerade deshalb wollte sie ihr das alte Haus mit seinen ganzen baulichen und wirtschaftlichen Problemen nicht zumuten. Als Sophie das Kehr wieder dennoch übernahm, war sie einfach nur glücklich. Nun blieb die Pension, die Bertas Urgroßvater erbaut und in der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, doch in Familienbesitz, was ihr wichtiger war, als sie zugab. Und ihr Stammtisch blieb erhalten. –Wie hätte sie ohne den leben können? Sie kann sich überhaupt nicht vorstellen, jeden Abend allein zu sein und vielleicht nur vor dem Fernseher zu sitzen. Hier trifft sie alle Menschen, die ihr wichtig sind und die sie mag. Und auch andere, die sie weniger mag, aber auch von denen erfährt sie, was in Bansin so vor sich geht. Auch wenn Sophie manchmal vorwurfsvoll oder verächtlich von »Klatsch und Tratsch« redet, das ist Berta egal. Sie muss wissen, was im Ort passiert, und glaubt auch nicht, dass es etwas gibt, was sie nichts angeht. Sie ist sehr geschickt darin, die Leute auszufragen. Was sie davon weitererzählt, überlegt sie sich genau. Bisher ist sie mit dieser Taktik gut gefahren, das muss sogar Sophie zugeben, nachdem ihre Tante mehrere Verbrechen aufgeklärt hat.
Sophie war die Entscheidung Anfang der 2000er nicht leichtgefallen. Sie wusste um das Risiko, als sie einen hohen Kredit aufnahm, um die Pension von innen zu modernisieren und völlig umzubauen. Erschwerend war hinzugekommen, dass das denkmalgeschützte Haus an der Außenfassade nicht verändert, sondern nur restauriert werden durfte, was die Sache nicht einfacher aber vor allem noch teurer machte. Aber gleich mehrere Argumente hatten dafür gesprochen, es doch zu wagen. Der Standort des Hauses direkt an der Strandpromenade mit Blick auf die Ostsee hätte nicht besser sein können. Dann Bansin selbst, das mit seiner schönen Bäderarchitektur noch immer die Eleganz der Gründerzeit des Seebades erahnen ließ und mittlerweile wieder zu einem beliebten Kurort geworden war. Dazu der breite weiße Strand, die angrenzende Steilküste, der Buchenwald, der den Ort umgibt – nicht nur Berta, auch Sophie konnte sich vorstellen, hier den Rest ihres Lebens zu verbringen.
Und natürlich verbringt sie gern Zeit mit ihrer Tante. Schon als Kind hat sie sich, wenn sie Probleme hatte, an sie gewandt, Berta wusste immer Rat und hat nie versucht, sie zu erziehen, hier fühlte sie sich geborgen und verstanden.
Zu Bansin gehört auch Anne, ihre beste Freundin seit der Kindheit, obwohl sie sich früher nur in den Ferien sahen. Inzwischen ist Anne Wiesner 1,85 m groß und fast doppelt so schwer wie ihre zierliche Freundin. Im Gegensatz zu Sophies gefärbten Haaren ist ihre Mähne naturrot, wenn auch inzwischen etwas ausgeblichen und von etwas Grau durchzogen. Sie lebt allein, ihre Familie sind Berta und Sophie, das Kehr wieder ist ihr Zuhause.
Anne lässt sich jetzt auf einen Stuhl am Stammtisch fallen, atmet laut auf und sagt: »Gott sei Dank, Feierabend! Ich hatte so bescheuerte Gäste heute, das glaubt ihr nicht.«
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