Sophie und Anne gehen auf der Strandpromenade an der Rückseite der Fischerhütten vorbei. Kurz haben sie um die Ecke gesehen, aber am Fischerstrand ist heute Nachmittag niemand. Die Autos von Paul und Arno sind nicht da und auch kein Mensch. Nur die blau-weiße Fahne mit dem roten Pommerngreif steht einsam in den Dünen und hält die Stellung. Sie flattert in der leichten Brise und ist das Einzige, was sich hier noch bewegt.
Dort, wo die Promenade endet, gehen sie hinunter zum Strand und schlendern im feuchten, festen Sand am Ufer entlang. »Der Kapitän hat dich ja am Freitag ganz schön angebaggert«, stichelt Sophie, nachdem sie eine Weile schweigend gegangen sind.
»… der ehemalige Kapitän. Aber ja, hat er. Ist doch nett. Ich hab mich jedenfalls gut unterhalten. Sein Hund ist auch nett«, fügt sie hinzu.
Sophie lacht. »Super. Wenn das nichts ist: ein netter Hund. Und sonst?«
»Nichts sonst. Abwarten!«
»Aha.« Sophie wird ernst. »Du sag mal, was ist das eigentlich mit dieser Familie? Ich wollte Tante Berta fragen, das hab ich ganz vergessen. Sie hat mit Paul darüber gesprochen, dass Micks Vater tot ist. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist er bei einem Fluchtversuch ertrunken. Stimmt das? Weißt du was darüber?«
»Ja, klar, das ist eigentlich kein Geheimnis. Die alten Bansiner wissen das alle. Die haben zusammen gefischt: Micks Vater Ansgar, sein Onkel Boto, das ist der jüngere Bruder seines Vaters, und deren Cousin Cuno. Vor Ansgar hatte ich als Kind immer ein bisschen Schiss. Ich musste ja manchmal vom Strand Fisch holen, aber zu Ansgar bin ich nicht so gern gegangen. Boto, zu dem haben die am Strand alle Bötchen gesagt, war ruhiger und freundlicher. Ich glaube, er stand immer im Schatten seines Bruders, der hat ihn ganz schön herumkommandiert. Er hatte auch keine Frau und keine Kinder, Mick war für ihn wie ein eigener Sohn. Der weiß das auch und kümmert sich jetzt um ihn. – Und dann war da noch Cuno. Der sah genauso aus wie die beiden Brüder. Sie hatten ja auch alle den gleichen Großvater. Aber Cuno hatte einen ganz anderen Charakter. Der steckte ständig in Schwierigkeiten. Bei jeder Prügelei – nach den Tanzabenden im Meeresstrand haben die sich früher immer geprügelt – war er mittendrin, er hatte dauernd Frauengeschichten und mindestens ein uneheliches Kind im Ort. Gesoffen haben die ja alle, aber Cuno hat im Suff nur Blödsinn gemacht. Und sonst auch. Ansgar wollte ihn eigentlich nicht am Strand haben, deshalb hat er auch erst mal Maler gelernt. Aber dann hatten sie das große Boot und brauchten wohl doch einen dritten Mann. Und Blut ist eben dicker als Wasser, sagt man ja. Ich kann mir vorstellen, dass Boto ganz froh darüber war. Cuno war immer lustig, der hat die Arbeitsatmosphäre bestimmt ein bisschen aufgelockert. Ansgar hingegen war jähzornig, der konnte brüllen wie ein Ochse und immer so ernst und streng und ziemlich hochnäsig, denke ich heute. Es hieß, dass er der reichste Mann in Bansin war, aber auch sehr geizig. Seiner Frau hat er jedenfalls nichts gegönnt, die musste immer nur arbeiten. Nur für Mick, seinen einzigen Sohn, da hat er alles getan. Er wollte auch nicht, dass der bei ihm einsteigt, er sollte was Besseres werden. Ein richtiger Seemann, der auf allen Meeren der Welt zu Hause ist. – Ah, jetzt habe ich nasse Füße«, unterbricht Anne kurz ihren Monolog, als eine Welle ihre Schuhe überspült. »Aber das hat man natürlich erst später erfahren, als Kind kriegt man das ja nicht so mit. Mir hat es Tante Berta erzählt, als Ansgar gestorben ist. Er wäre bestimmt stolz auf Mick gewesen, aber dass der Kapitän wurde, hat er nicht mehr erlebt.«
Sie sind jetzt etwa einen Kilometer am Strand entlanggegangen und bleiben stehen. Links von ihnen führt eine Treppe hinauf zur Steilküste. »Wollen wir da hochsteigen oder gehen wir weiter und drehen nachher um?«, fragt Anne. »Also bis nach Ückeritz laufe ich nicht.«
»Nein, das will ich auch nicht. Ich muss ja auch zurück in die Gaststätte. Lass uns durch den Wald gehen!«
Die beiden steigen die steile Treppe hinauf und bleiben oben eine Zeit lang stehen, um ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen, während sie über das Meer blicken. Anne atmet tief ein. »Ist das nicht herrlich? Man muss wirklich öfter mal die Seele in den Schoß legen und die Hände baumeln lassen.«
»… oder so«, murmelt Sophie. »Was ist denn nun mit Ansgar passiert?«, fragt sie dann, während sie langsam an der Steilküste entlang zurückgehen.
»Die waren Fischen, ziemlich weit draußen, in der Nähe von Dänemark. Das war 1988. Cuno hatte sich in Bansin mal wieder in Schwierigkeiten gebracht und wollte abhauen. Er wollte heimlich den Motor beschädigen, damit sie in Bornholm anlegen müssen. Aber Ansgar hat ihn dabei erwischt. Es kam zum Handgemenge, Cuno hat Ansgar über Bord gestoßen. Sie wollten ihn retten, aber es war Sturm, die Wellen hoch, und Ansgar ist ertrunken. Seine Leiche wurde später in Dänemark angespült. Boto hat Cuno dann trotzdem nach Bornholm gebracht. ›Offiziell‹, hat er gesagt, Cuno hätte ihn gezwungen, aber natürlich wollte er ihn auch nicht an die DDR ausliefern. Die hätten ihm nicht nur versuchte Republikflucht, sondern auch noch einen Mord angehängt.«
»Aber schließlich hat er ja auch seinen Cousin ermordet!«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Boto war der Einzige, der dabei war. Er hat später mal erzählt, Cuno wollte das gar nicht. Er wollte einfach nur abhauen und das mit Ansgar war ein Unfall.«
»Armer Mick. Wie alt war er da?«
»Zwanzig, glaube ich. Er war schon auf der Seefahrtschule.«
»Dann war er wenigstens kein Kind mehr.«
»Ja, was denkst du denn? Der ist gar nicht so viel jünger als wir.«
»Ist ja gut.« Sophie grinst erfreut, weil sie Anne aus der Reserve gelockt hat. Erstaunt stellt sie fest, dass ihre Freundin verlegen ist, ein ganz ungewöhnlicher Anblick. Aber schön.
»He – du hast dich verknallt.«
»Also ehrlich, wie redest du? Wir sind doch keine 17 mehr.« Annes Protest klingt verhalten, sie bleibt am Rand der Steilküste stehen und blickt aufs Meer.
»Na, und? Ist man zwischen 13 und 30 nicht ständig verliebt? Aber mit 55 ist es schon etwas Besonderes. Ich finde es toll, wirklich«, sagt Sophie lächelnd.
»Na, ich weiß nicht. Wie du das sagst, hört es sich an, als hättest du mich bei etwas Verbotenem ertappt. Oder etwas Kindischem. Ach, ich weiß auch nicht. Einerseits fühlt es sich total gut an, aufregend. Ich dachte nicht, dass ich noch mal so für einen Mann empfinden würde. Andererseits stehe ich neben mir und sehe fassungslos zu, wie albern ich bin.«
Sophie legt den Arm um ihre Freundin. »Jedenfalls sieht der Kerl gut aus und ist sympathisch. Also, meinen Segen hast du, falls du Wert darauf legst. Albern bist du auf keinen Fall, lass es einfach zu!«
Anne nickt nachdenklich und etwas erleichtert.
»Nun komm, sonst ist Tante Berta noch früher zurück als wir«, wechselt Sophie das Thema. »Außerdem ist es blöd für Evelin, wenn Gesa kommt und sie sie bedienen muss, weil ich nicht da bin.«
»Das Problem verstehe ich ja nun gar nicht. Ist doch schließlich ihre Mutter, mit der wird sie wohl nicht zum ersten Mal allein sein.«
»Aber irgendwas ist zwischen den beiden. Die haben Krach, ich weiß nicht genau, warum.«
»Frag Tante Berta, die wird das schon wissen.«
Die Gaststätte ist zur Mittagszeit noch gut gefüllt, wahrscheinlich hat es sich unter den Urlaubern herumgesprochen, dass man hier gut und preiswert essen kann. Evelin ist eine gute Kellnerin, schnell und freundlich, wenn sie sich Trinkgeld davon verspricht. Manchmal vertut sie sich beim Herausgeben, natürlich immer zu ihrem Vorteil, aber das kann ja mal passieren, und sie übertreibt es nicht, sodass es Sophie noch nicht aufgefallen ist. Auch deshalb hält sie sich für sehr schlau und fühlt sich ihrer Chefin und deren Freundin überlegen.
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