»Und ich zu dir«, raunt sie ihm zu, während sie seine Augen betrachtet, das wuschelige Haar, das sie so sehr an ihm liebt .
Erneut poltert es, der Wind wird stärker, unerbittlich, zerrt er an ihnen .
Und mit einem Mal sind sie da. Männer, verhüllt von Kutten. Einer von ihnen trägt etwas Goldenes an seinem Umhang, ein merkwürdiges Zeichen, durch das er unter den anderen hervorsticht. »Nein!«, ruft er noch .
Nun geht alles ganz schnell. Claire und Alan stürzen hinab in die Tiefe, das kalte Wasser der Themse umhüllt sie, und es bleibt nichts als Schwärze zurück .
Doch die Dunkelheit ist nicht von Dauer, denn nach einigen Minuten steigen zwei Funken aus dem Wasser, ein blauer und ein roter. Kurz strahlen sie hell auf, ehe sie in der Weite verschwinden .
Mit einem Ruck zieht es mich zurück. »Scheiße, was war das?«, flüstere ich. Das Gefühl ist noch immer so greifbar, die Bilder beinahe real. Genauso wie die Spannung, die plötzlich in die Gesichtszüge des Jungen mir gegenüber tritt. Wie lange war ich in den Bildern versunken? Er mustert mich für ein paar Augenblicke, bevor er sich abwendet und sich dem Kästchen widmet.
»Scheiße, allerdings, du sagst es.«
»Hast du es auch gesehen?«, frage ich atemlos.
Doch er verzieht das Gesicht. »Keine Ahnung, wovon du redest, aber wenn du das hier meinst …« Er deutet auf das Kästchen. »Ja, das habe ich gesehen. Ich bin ja nicht blind. Da ist ein Riesenriss im Etui!«
Etui? Wer benutzt dieses Wort? Er hat also echt nichts von diesen Bildern mitbekommen? Nichts von dem Paar, dem Licht, nichts von Alan und Claire, die sich allem Anschein nach hier hinuntergestürzt haben?
»Nein, ich spreche von dem Liebespaar. Und dieses … Leuchten?«, frage ich und ärgere mich sogleich, weil er mich ansieht, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. Im Blau seiner Augen blitzt Verwunderung auf.
»Ähm, nein?«
Okay, ich muss total bescheuert auf ihn wirken. Warum sollte er auch etwas gesehen haben?
»Klingt verrückt, oder?«
»Nein, das klingt total plausibel«, antwortet er, während sich Überheblichkeit in seinen Blick mischt. »Du warst also von mir geblendet? Alles klar!«
Blödmann, das habe ich doch gar nicht gesagt!
»Ha, ha, sehr lustig. Kann man das nicht irgendwie ersetzen?«
Daraufhin beugt er sich plötzlich zu mir vor, weiter, noch weiter.
Sein Atem streicht beinahe über meine Lippen, so nah ist er mir jetzt.
Mein Herzschlag beschleunigt sich. Was tut er da? In meiner Brust hämmert es immer heftiger. Irritiert hebe ich die Hand.
»Ähm, was tust du da? Damit ersetzt man das Kästchen nicht!«
Er sieht mich fragend an.
»Hä? Was glaubst du, das ich tue?«
»Mich küssen?«
»Dich küssen?!«
Ich sehe ihn an. »Kam mir irgendwie so vor.«
Er lacht.
»Mach dir mal keine Sorgen, dass hatte ich nicht vor. Du hast da einen Fleck am Kinn.«
»Das ist ein Muttermal.«
Blödmann.
Ist das peinlich! Mein Puls rast, Adrenalin strömt durch meinen Körper.
Er grinst. »Und nein: Dieses Etui kann man nicht ersetzen, niemand kann das.« Sein Blick verdunkelt sich, und ich habe das Gefühl, dass dieses Etui ihm wirklich wichtig ist. Als mein Blick wieder auf das Etui fällt, durchfährt mich plötzlich ein starkes Gefühl, das einem Déjà-vu gleichkommt. Habe ich das Etui nicht eben in diesen Bildern auch gesehen? Kann das wirklich sein?
»Es tut mir leid, ehrlich«, sage ich, jetzt wieder etwas ruhiger.
Er steckt das Etui ein, dann streicht er sich mit den Fingern durch die Haare. »Pass das nächste Mal einfach besser auf.« Schließlich wendet er sich ab, und mein Herz klopft noch immer viel zu schnell.
Was war das denn bitte? So etwas habe ich noch nie erlebt. Diese Berührung, die Bilder, dieser Lichterwirrwarr. Er mag mich zwar für blöd halten, aber das alles war wirklich da. Oder? Und noch dazu kam er mir so bekannt vor.
»Wer war das denn?« Jills Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Ja, wer war das denn?
»Wenn ich das wüsste. Aber irgendwie hatte ich den Eindruck, ihn zu kennen«, flüstere ich und sie sieht mich fragend an. Noch immer kreisen die Gedanken durch meinen Kopf. Dann wird mir schlagartig etwas klar. »Ich weiß nicht, ob ich bescheuert bin, aber der Junge …«
»Was ist mit ihm?«
»Ich weiß, das klingt verrückt. Aber … Jill, ich weiß jetzt, warum er mir bekannt vorkommt.«
Sie hebt eine Augenbraue. »Okay, und woher?«
Ich hole tief Luft. »Ich glaube, ich habe ihn schon mal gezeichnet.«
»Also schön, der Typ erinnert dich an einen Jungen aus deinen Bildern? Bist du dir sicher?«
Wir haben es uns im Coopa Club , einem hübschen Café unweit der Tower Bridge mit Blick auf die Themse gemütlich gemacht, vor uns stehen zwei Milchkaffe. Jill liebt es hier, und auch ich mag es, in den kleinen Holziglus zu sitzen und die Menschen um uns herum zu beobachten.
»Das hört sich sehr schräg an, oder? Ich meine, auf meinen Bildern hat er ja kein richtiges Gesicht. Trotzdem.« Ich greife nach meinem Glas und nehme einen Schluck. Das heiße Getränk tut mir gut und wärmt meinen Magen, der sich jetzt auch langsam beruhigt. Doch hin und wieder werfe ich doch einen Blick zurück zur Tower Bridge, die mit einem Mal unheimlich geheimnisvoll wirkt.
»Ach vergiss es. Das war alles nur eine oberpeinliche Aktion.«
Ich winke ab.
»Zeig lieber mal die Fotos, die du für Instagram gemacht hast.«
Ich weiß, damit treffe ich ins Schwarze, denn Jill liebt das Thema Fotos, und so zückt sie auch gleich ihr Handy. »Na schön, wie du willst.« Sie lächelt. »Aber glaub ja nicht, dass dieses Thema für mich schon gegessen ist.« Während sie auf dem Display herumtippt, weiten sich ihre Augen. »Amy, da sind echt richtig gute Aufnahmen dabei. Schau mal, wie gefällt dir das?« Sie dreht das Handy zu mir. Das Foto zeigt sie auf den Glasplatten. Sie steht auf einem Bein, was total witzig aussieht. »Wirkt beinahe, als würde ich mit einem Fuß in der Themse stehen. Genial, oder? Vor allem im Zusammenspiel mit dem Spiegel.«
»Ja, das ist wirklich gut«, pflichte ich ihr bei. »Das kannst du ruhig auf Instagram stellen, ich wette, das kommt gut an. Auch ohne Filter. Du machst KassiLondon noch Konkurrenz.« Sie ist ihre Lieblingsbloggerin.
»Meinst du? Warte, ich habe ja noch mehr Fotos. Willst du sie sehen?«
Schließlich gehen wir gemeinsam die anderen Bilder durch. Doch irgendwann schweifen meine Gedanken erneut ab. Erst als ich merke, dass Jill mich eindringlich mustert, fange ich mich wieder.
»Er geht dir einfach nicht aus dem Kopf, oder?«
»Was?« Ich zucke zusammen.
»Ist doch okay. Ich meine, er sah schon wirklich sehr gut aus.« Sie grinst, und ich rolle mit den Augen.
»Ach, eigentlich ist das doch total bescheuert, lenk mich bitte ab«, seufze ich.
Jill nickt.
»Ablenkung also, okay, da fällt mir ein, hast du dich schon wegen der Party im Closer entschieden?« Sie schaut mich erwartungsvoll an.
Tausend Gedanken machen sich in meinem Kopf breit. Ich muss es ihr sagen.
»Jill. Es ist nicht so, dass ich nicht will, aber das Geld ist recht knapp momentan. Mum arbeitet schon so viel und ich will nicht dauernd Tante May anschnorren.«
»Hey. Pass auf, Vorschlag: Ich lade dich ein, und wenn es wieder besser ist, dann bist du eben dran. Okay? Deal?«
Ich lache und stupse Jill in die Seite. »Na schön, Deal. Aber ich gebe es dir irgendwann zurück, versprochen.«
»Cool! Ich freue mich riesig. Und mach dir keine Gedanken.« Sie wischt durch ihr Handy und stoppt irgendwann.
»Okay, das ist interessant. Aber eigentlich ist es dir ja egal, also total egal. Und du willst es ja nicht sehen – selbst wenn da dieser geheimnisvolle Typ auf dem Foto wäre …« Sie sieht mich an und grinst.
Читать дальше